Die Geschichte einer Liebe als Gabe Gottes
1. Samuel 18-23
Von Jürg Bräker, Manuskript einer Predigt
Ich nehme euch mit in eine Geschichte in einem Bürgerkrieg. Da buhlen Anführer um die Gunst von Anhängern, verfeinden sich, da kommen Menschen zusammen und werden Loyalitäten getestet. Da steigt einer zum Herrscher auf, an dem nach seiner Zeit seine Nachfolger gemessen werden, der als Höhepunkt gefeiert wird in der Geschichte Gottes mit der Menschheit: David, König von Israel und Juda. Und mitten drin in dieser meist recht brutalen, von Blut triefenden Geschichte, blüht eine Liebe. Eine Liebe zwischen zwei Männern.
Die Geschichte kreist um drei Männer: Saul, der erste König von Israel, Jonatan, sein Sohn und wohl designierter Nachfolger, und David, der aus einer anderen Sippe kommt. Im Hintergrund ein fortwährender Kampf mit anderen Völkern, hauptsächlich die Philister. Es gibt viele schwierige, für uns schwer verständliche Stränge in dieser Geschichte, etwa, wie Gott die Entscheidungen und Haltungen dieser Menschen steuert, als fördernde Kraft, wenn er erwählt, und zerstörende Kraft, wenn er verwirft. Und nicht zu übersehen die Brutalität dieser Gotteskriege, wenn im Namen Gottes Feinde niedergemetzelt werden und das kritiklos so stehen gelassen wird. Da ist aber ein Strang, der herausleuchtet aus diesem düsteren Gewebe, und den möchte ich herausarbeiten. Es sind die Entscheidungen Jonatans. Der von Gott Geschenkte. Es wird selten so gesagt, aber nicht nur David, auch Jonatan ist ein Vorschatten auf Christus, den Menschen, in dem Gott sein Gesicht aufscheinen liess in der Welt, Jesus von Nazareth.
Einer, der sein Leben hingibt für seinen Freund.
Wenn die drei aufeinandertreffen, hat schon jeder seine Vorgeschichte.
Saul stolpert eher in sein Königtum hinein, er hat es jedenfalls nicht gesucht. Er ist aus Benjamin, ein kleiner, unbedeutender Stamm. Er weiss, dass Gott ihn zum König berufen hat, aber er macht den Eindruck, als würde er der Sache nie so ganz trauen. Immer muss er sich seine Anerkennung im Volk unter Beweis stellen. Er überschreitet seine Kompetenzen und opfert selbst, als sich der Prophet Samuel verspätet, weil er Angst hat, das Volk laufe ihm davon. Er gibt übertriebene Befehle, weil er seinen Leuten nicht traut: Keiner darf etwas essen vor dem Ende der Schlacht, damit die Leute sich nicht beim Beutemachen verlieren. Und als Gott in einer anderen Schlacht den Befehl gibt, dass keine Beute gemacht werden darf, sondern alle und alles umgebracht werden muss, fürchtet Saul um die Gunst des Volkes und zeigt den Humanen, lässt sie das Beste behalten, aber als er zur Rede gestellt wird, stellt er sich fromm und sagt, das sei als Opfer für Gott gedacht. Ein tief verunsicherter Mann, der Gott nie ganz traut, nie in seiner Berufung ruht und von einer Fehlentscheidung in die andere rutscht. Er wehrt sich nach Kräften, aber die ursprüngliche Erwählung bestätigt sich nicht, er erfährt, dass Gott ihn verwirft. Als wäre er in Triebsand geraten, strampelt er und versinkt immer tiefer.
Jonatan hat ganz andere Voraussetzung als sein Vater: Er wird bereits als Königssohn geboren. Ein kriegerischer Draufgänger, der selbständig seinen Weg geht, ihm geht der Erfolg leicht von der Hand. Er wird bewundert im Volk, aber man bekommt den Eindruck, dass ihn das ziemlich kalt lässt. Er übertritt das Essensverbot seines Vaters, ohne davon zu wissen; aber als man sagt, dass er das Verbot seines Vaters gebrochen hat – Jonatan hat während der Schlacht etwas Honig gegessen – kritisiert er seinen Vater, wie unsinnig das ist, weil die Leute keine Kraft mehr haben. Diese Bagatelle wird zum Drama. Saul gibt nun den Ultra-Gottgetreuen und will den töten lassen, der den Schwur des Volkes gebrochen hat. Er gibt den starken Mann, und als das Los auf Jonatan fällt, zieht er es durch und will Jonatan töten lassen. Erst als das Volk ihn auslöst, begnadigt er ihn. Jonatan also auch ein Gezeichneter: Sein Vater würde ihn eher umbringen lassen als sein Wort zurück zu nehmen, das er unüberlegt in die Welt gestellt hat.
David ist deutlich jünger als die beiden. Einer, bei dem einem das Herz aufgeht, wenn man ihm begegnet. Er ist nicht nur schön mit glänzenden Augen, er ist einer, der in aller Selbstverständlichkeit seinen Weg findet und geht, dem das Gottvertrauen, um das Saul so schwer ringt, einfach ins Herz gegeben ist. Alle verlieben sich gleich in ihn, auch Saul gewinnt ihn lieb, als er das erste Mal in seiner Umgebung auftaucht und macht ihn zu seinem Waffenträger, ein Vertrauensposten.
Recht eigentlich ins Leben von Saul und Jonatan tritt er nach seinem Kampf mit Goliat. Die Geschichte vom Hirtenjungen David und dem Philister-Riesen Goliat wird als eine Geschichte des Gottvertrauens erzählt, wenn ein völlig Unterlegener den hochgerüsteten Riesen fällt. Aber es ist eine brutale Kriegsgeschichte, und David verpasst es nicht, den abgeschlagenen Kopf Goliats mit sich herumzutragen und ihn vorzuzeigen, und lässt sich als Kriegsheld feiern. Das ist kein Beispiel für eine gewaltfreie Konflikt-Transformation, als würde der Kampf Gott überlassen, auch wenn David dem Gegner nicht mit gleichen Waffen entgegentritt und ihn stattdessen mit dessen eigenen Waffen erschlägt.
Hier nun setzen wir ein: die drei treffen aufeinander im Zelt Sauls.
Saul, Jonatan und David begegnen sich im Zelt Sauls.
1 Sam 18, 1-4:
„Und dann kam es so: Als er (David) aufgehört hatte, mit Saul zu sprechen, da war die Lebenskraft, Seele, das Herz Jonatans untrennbar mit dem Herzen Davids verbunden, und Jonatan liebte ihn wie seine eigene Lebenskraft, Seele, wie sein eigenes Herz. Saul holte ihn noch an diesem Tag zu sich und liess ihn nicht mehr in den Haushalt seines Vaters zurückkehren. Jonatan aber schloss mit David einen Bund, weil er ihn wie seine eigene Seele liebte. Jonatan zog sein Prinzenkleid aus, das er trug und gab es David, noch dazu sein Gewand, sogar sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel.„
Es trifft Jonatan wie ein Schlag, da widerfährt ihm etwas, sein ganzes Leben und was er ist, hat sich mit David verknotet. Er liebt ihn wie sein eigenes Leben. Andere gewinnen David auch lieb, aber was da dem Jonatan passiert, ist viel tiefer. Seine Seele, das, wo alles zusammenkommt, wer er ist, wir würden sagen: Mit Leib und Seele: all das hat sich mit Davids Wesen verknotet.
Wir sehen gleich, dass Sauls Faszination für David nicht so tief geht, sie schlägt rasch in Neid um, als die Volksverliebtheit David als viel grösseren Helden als Saul feiert: „Saul hat seine Tausende erschlagen, David aber seine Zehntausende.“ (1 Sam 18,7) Sauls Faszination schlägt in Argwohn um. Und fortan folgt er dieser Piste.
Jonatan aber schlägt einen ganz anderen Weg ein. Es scheint erst so, dass ihn die Liebe so packt, dass er keine andere Wahl hat, aber das ist nicht so: Erst durch den nächsten Schritt bestimmt diese Verbindung von nun an das Leben dieser beiden ungleichen Männer. Jonatan geht einen Bund mit David ein. Er verpflichtet sich diesem jungen Mann ganz aus freien Stücken. Der bestandene Kriegsheld-Königssohn und der Hirtenbub, der nicht mal einen Brustpanzer tragen kann. Der Bund ist einseitig: Jonatan entkleidet sich und schenkt David seine Ehrenzeichen und Waffen.
Dieses Ritual spricht Bände. Er übergibt seinen ganzen Schutz an David und macht sich vor ihm verletzlich. Die Liebe widerfährt ihm nicht nur, er steht zu ihr und sagt David: „Meine Lebenskraft, mein Herz hat sich ganz mit dir verknotet.“ Er weiss nicht, wie das bei David ankommt. Er allein ist der Gebende. Zunächst lesen wir noch nichts davon, dass auch David Jonatan liebt wie sein eigenes Herz. Jonatan wagt einen Sprung, gibt sich hin, ohne dass er sicher ist, was das in Zukunft bedeuten wird.
Vielleicht ist es noch nicht so aussergewöhnlich, wenn ein Kriegsheld sich in die selbstverständliche, unprätentiöse Aufrichtigkeit Davids, aber auch dessen Mut, verliebt. Zumal, wenn er einen Vater hat, der bereit ist, den eignen Sohn zu opfern, um sein Gesicht zu wahren. Dass Jonatan den David wie sein eigenes Leben liebt, hat wohl auch etwas damit zu tun, dass er ihn ihm etwas erkennt, auf das er auch sein eigenes Leben ausgerichtet hat. Schön ist David nicht nur von Gestalt, es ist auch sein Wesen. Jonatan spürt, dass David auf einem anderen Fundament steht als sein Vater. Jonatan erkennt in David, wenn der Segen Gottes einen Menschen zu durchdringen beginnt.
Hier zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen Saul und Jonatan. Jonatan weiss in diesem Moment vielleicht noch nicht, wie viel ihn diese Freundschaft kosten wird, aber er legt sich auf diese Spur des Gesegneten fest. Da ist keine Aussicht darauf, dass er von diesem Band, das sich um ihn gelegt hat, einen Vorteil für sich gewinnt, ausser dass wer weiss, dass er sich damit auf denselben Boden begibt, auf dem David steht. Aber er festigt es mit einem Bund und sagt ja dazu. Dass er dieser Freundschaft Boden und Beständigkeit gibt, das ist seine eigene, freie Wahl.
Jonatan gerät zwischen die Fronten
Es ist nicht verwunderlich, wenn Saul das Gefühl hat, im Lobgesang auf David verspotte das Volk seinen Noch-König. „Saul hat seine Tausende erschlagen, und David seine Zehntausende“. Aus dem anfänglichen Argwohn, dass ihm dieser Günstling zum Konkurrenten werden könnte, wird Feindschaft. Mal entfernt er ihn aus seiner Nähe, dann wieder macht er ihn zum Schwiegersohn, in der Hoffnung, er käme beim Kampf ums Brautgeld ums Leben. Den offenen Angriff wagt er nicht, weil David schon zu hoch in der Gunst des Volkes steht. Aber bei seinen Vertrauten macht er klar, dass er David töten lassen will.
Jonatan ist zwischen die Fronten geraten. Zuerst gelingt es ihm noch, den drohenden Bruch abzuwenden. Er legt seinem Vater dar, dass es nicht Davids Schuld ist, wenn er so beliebt ist: Er ist nun mal ein aussergewöhnlicher Krieger. Was David für Saul tut, ist von grossem Vorteil für ihn, er riskiert ja sein Leben für ihn, wenn er gefährliche Kriege führt. Jonatan nimmt aber auch deutlich Partei für David: Er traut David keine bösen, umstürzlerischen Absichten zu. Zwischen den Zeilen steht aber noch mehr: Eigentlich könnte man auch von Jonatan erwarten, dass er in diesen Wettbewerb um die Gunst des Volkes einsteigt. Auch Jonatan ist ein Kriegsheld. Warum fährt er nicht sein eigenes Projekt? Sein Bund mit David stellt seine Füsse auf einen anderen Grund. Es ist, als wäre er dadurch eine Schicht tiefer da angekommen, wer er ist und muss sich nicht mehr beweisen. Er erkennt deutlicher, was zählt und kann den Spuren nachgehen, wo er den Segen Gottes erkennt, dort, wo Lebenskraft aufblüht. Er sieht die Aufrichtigkeit Davids.
Dies ist ein ganz wichtiger Punkt: Der Mann, mit dem er seinen Lebensbund eingeht, befreit ihn von den Zwängen, in die ihn seine Geburt stellt. Es geht nicht nur darum, dass er Davids Werte annimmt oder ihn gar imitiert. Die Liebe zu David führt Jonatan selbst zum Kern seiner eigenen Person, stärkt ihm den Blick für den geraden Weg, den Saul nie findet.
Auf die Dauer kann Jonatan den Bruch nicht vermeiden. Saul gibt den offenen Auftrag, David umzubringen, David wird zum Gejagten auf der Flucht.
Erst in dieser Situation wird aus dem Bund Jonatans mit David ein gegenseitiger Bund. David muss sich entscheiden, Jonatan zu vertrauen. Hat sich auch sein Leben mit ihm verknotet, oder distanziert er sich, weil Jonatan Saul zu nahe steht? Dieses Mal ergreift David die Initiative und kommt zu Jonatan. Er traut der tiefen Liebe von Jonatan zu ihm mehr. Jetzt ist er es, der nackt vor Jonatan steht und nichts in der Hand hat. Jetzt legt er sein Leben in Jonatans Hand. Wenn Jonatan ihn verrät, ist es aus mit ihm. So nimmt David die Liebe Jonatans an, er erweist ihm dieses nackte Vertrauen, das sich ohne Sicherheitsnetz auf die versprochene Treue zu ihm stützt. Damit zeigt David: Auch er liebt Jonatan.
Jonatan versucht noch immer zu vermitteln und will nicht glauben, dass Saul David tatsächlich umbringen würde. Noch einmal sucht er einen Weg, dass er als Sohn beim Vater bleiben kann und die Freundschaft mit David leben kann. In einem geheimen Treffen hecken die beiden einen komplizierten Plan aus. Es gibt ein Festmahl, bei dem alle Getreuen Sauls dabei sein müssten, auch David wird trotz der Feindschaft Sauls erwartet. Jonatan entschuldigt ihn: David habe ihn gebeten, ihn zu seiner Familie zu entlassen, weil er mit ihnen opfern müsse. Saul durchschaut die Lüge, und das ganze Misstrauen auf David entlädt sich nun auf Jonatan: „Du Sohn einer verkehrten Widerspenstigen (andere übersetzen: Hurensohn)! Habe ich nicht längst begriffen, dass du dir den Sohn Isais auserwählt hast zu deiner Schande und zur Schande der Scham deiner Mutter? Alle Tage, die der Sohn Isais auf dem Erdboden lebt, wirst du ganz sicher keinen festen Boden unter die Füsse bekommen, du und dein Königtum. Jetzt schick hin und hol ihn zu mir her, denn er muss sterben.“ 1. Sam 20,30f Jonatan versucht noch einmal, Saul umzustimmen: „Warum soll er getötet werden, was hat er getan?“ 1 Sam 20,32. Da schleudert Saul seinen Speer auf den eigenen Sohn. Damit ist der Bruch offen. Saul kann nicht begreifen, dass Jonatan seine Liebe zu David höher stellt als seine Eigeninteressen, und seine Wortwahl „zur Schande der Scham deiner Mutter„, macht es deutlich, dass sie ihm auch aus anderen Gründen zuwider ist: Das ist die Sprache der Intimität.
Schon vor dem Eklat erneuert Jonatan seinen Bund mit David:
„Du sollst in Frieden gehen und Gott soll mit dir sein, wie er mit meinem Vater war. Und nicht wahr, solange ich noch lebe, wirst du mich Gottes Liebe spüren lassen? Und nicht wahr, wenn ich gestorben bin, wirst du deine Liebe für meine ganze Familie und meine Nachkommen nicht abtöten, für immer, auch nicht, wenn Gott alle, die David feindlich gesinnt sind, von der Erde ausrottet. Daraufhin liess Jonatan David bei seiner Liebe zu ihm schwören, denn er liebte ihn mit der Liebe seiner ganzen Lebenskraft.“ 1 Sam 20,13-17. Da zeigt sich schon: Jonatan ahnt, dass er aus dem Konflikt nicht mehr rauskommt. Jonatan weiss, dass auch er mit der Treue zur Freundschaft nun sein eigenes Leben in die Hand Davids legt.
Nun zeigt sich, wie teuer ihn die Treue zum Bund zu stehen kommt, den er schloss, als ihn damals der Blitz der Liebe zu diesem Gesegneten traf. Er weiss, wenn er David zur Flucht verhilft, riskiert er sein Königtum. Das ist gefährlich für ihn als Sohn des Rivalen: „mich die Liebe Gottes spüren lassen“ sind nicht ein paar seelische Streicheleinheiten, da geht es um Handfestes: Dass David darauf verzichtet, die Familie Sauls auszulöschen, seine möglichen Konkurrenten auszuschalten.
Aber Jonatan stellt sich auch nicht gegen seinen Vater. Er könnte ja auch mit David fliehen und sich auf dessen Seite schlagen. Aber er bleibt bei seinem Vater, auch wenn das bedeutet, dass er David nicht mehr um sich haben wird. Er lebt die Treue zu beiden Menschen, nicht aber zu den Zielen seines Vaters.
Es kommt zum ergreifenden Abschied. Es ist für Jonatan lebensgefährlich geworden, mit David gesehen zu werden. Beim Bogenschiessen auf dem Feld kommuniziert er in geheimer Absprache indirekt mit David, der auf dem Feld versteckt ist. Aber dann überschreitet Jonatan die Grenze der Sicherheit und nimmt das Risiko auf sich, entdeckt zu werden. Er schickt den Jungen mit Pfeil und Bogen in die Stadt zurück, hört mit dem Täuschungsspiel auf. „Als der Junge gegangen war, stand David neben dem Steinhaufen auf. Dann warf er sich mit dem Gesicht auf die Erde und verneigte sich drei Mal tief. Es küsste jeder seinen Freund, und sie weinten miteinander, David ganz besonders.“ 1 Sam 20,41 Der Kuss bei Begrüssung und Abschied ist üblich unter Nahestehenden, aber dass erwähnt wird, dass David ganz besonders weint, zeigt, dass er längst die Liebe zu Jonatan erwidert hat und sich sein Herz, sein Leben, ebenso mit ihm verbunden hat. Die Beziehung geht tiefer als eine übliche Kameradschaft.
Es folgt nun die lange Geschichte der Flucht Davids vor Saul, die immer mehr in einen Bürgerkrieg ausartet, denn David sammelt eine eigene Armee um sich und beginnt selbst, die Schutzverantwortung eines Warlords auszuüben, auch wenn er sich nie direkt gegen Saul wendet. Aber die Städte und Dörfer müssen sich entscheiden, zu wem sie halten, der Aufstieg Davids und der Versuch Sauls, seine Macht zu erhalten, zerreisst das Land. Zweimal hätte David die Gelegenheit, Saul zu töten, aber er respektiert, dass auch dieser zum König gesalbt wurde und vergeht sich nicht an ihm. Er reisst das Königtum nicht an sich.
Vor diesem Kriegshintergrund wird erst deutlich, wie stark der Bund der beiden Männer ist. Das ganze Land zerrissen, und Jonatan schafft es, sich nicht zerreissen zu lassen und beiden Seiten treu zu sein. Das bringt die Parteien nicht zusammen, aber er zeigt, dass es andere Wege gibt als sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen.
Noch einmal kommt es zur Begegnung zwischen Jonatan und David, und was Jonatan da sagt, scheint mir am bedeutsamsten: Obwohl er an der Seite seines Vaters geblieben ist und äusserlich seinen Sohnespflichten nachkommt, hat er sich innerlich ganz auf die Seite Davids gestellt. Er kommt zu David, um ihn zu stärken: Hab keine Angst, denn die Hand Sauls, meines Vaters, wird dich nicht zu fassen bekommen. Du wirst König werden über Israel und ich der Zweite nach dir. Auch Saul, mein Vater, hat das erkannt.“ 1 Sam 23,17
Dieser Satz beeindruckt mich, in ihm kommt das Wesen der Freundschaft zum Ausdruck: Ich will dir helfen, dass dein Leben sein Ziel erreicht, selbst wenn ich dabei zurückstehen muss. Jonatan hat tatsächlich sein ganzes Leben an David hingegeben. Und das Erstaunliche ist, dass er der Einzige ist, der in diesem Konflikt unglaublich frei ist. Er kann seinem Herz folgen und geht geradlinig seinen Weg. Während alle vom Schicksal hin und her geschlagen werden, hat er in aller Ruhe seinen Platz im Leben gefunden.
In dieser Freiheit und Geradlinigkeit der Liebe, die sich so ganz von Eigeninteresse freimacht, wird er die wohl wichtigste Person, die David zum König formt. Denn der David, den wir am Anfang treffen, ist noch keineswegs gefeit gegen die Gefahr, sich vom Ruhm verführen zu lassen und auf den Wellen der Gunst des Volkes zu surfen. Mit seiner Ausstrahlung und Segnung, die ihn so attraktiv machte, hätte er leicht zum Narzisten werden können, der es braucht, immer im Mittelpunkt zu stehen, und seine Entscheidungen danach fällt, was ihm Beliebtheit verschafft. Die selbstlose Liebe von Jonatan, der äusserlich nur verliert durch seine Treue zum Bund, lässt sein Leben einen ganz anderen Kurs nehmen. In der Liebe Jonatans spiegelt sich die Liebe Gottes und Gottes Treue zu ihm, David, der Gott ein Leben lang treu bleibt, auch wenn Davids Leben manchmal in Zukunft mächtig schlingert.
- Es ist wahrscheinlich diese Erfahrung der konkreten Liebe Gottes durch diesen Menschen, dass David sich nicht hineinziehen lässt, Saul zu hassen. Trotz der Anfeindung stellt er sich nie gegen ihn. Er muss nicht für sich selber kämpfen, weil er darauf traut, dass Gott ihm seinen Platz geben wird.
- Es ist vielleicht diese Erfahrung, dass da einer so bedingungslos zu ihm steht, so ohne auf seinen eigenen Vorteil bedacht, die es David möglich macht, später sich vom Propheten Natan konfrontieren zu lassen, und seine Schuld zuzugeben, als David den Mann der Batseba umbringen liess, um sie an seinen Hof zu kriegen. Diese Liebe des Freundes, der einfach an ihn glaubt, hat in ihm einen Boden gelegt, dass er es nicht mehr nötig hatte, unter allen Umständen das Gesicht zu wahren.
Jonatan hat in David das hervorgeliebt, was diesen zu diesem aussergewöhnlichen König machte. Er ist für David tatsächlich der Jonatan: Die Gabe, die Gott gegeben hat. Jonatan ist das Geschenk Gottes an David.
Die Zwei begegnen sich danach nicht mehr. Jonatan stirbt auf dem Schlachtfeld an der Seite seines Vaters. Das Klagelied Davids, als er von ihrem Tod hört, gehört zu den ergreifendsten Texten der Bibel. David beklagt sie beide als Kriegshelden. Dann aber fügt er am Schluss einen Teil nur für Jonatan an: „Schmerz kommt mich an wegen dir, mein Bruder Jonatan, du warst mir so lieb, wundersamer war mir deine Liebe als Frauenliebe.“ 2 Sam 1,26 Diese Worte offenbaren auch etwas, was vielleicht zuvor noch verborgen war.
Zwei besondere Begriffe kommen darin vor, die auf das Wesen dieser Liebe hinweisen. Das eine, das übersetzt wird „du warst mir so lieb“. Es ist nicht das übliche ahav, lieben, das sehr breite Bedeutung hat. Er spricht von naam, ein Wort das beschreibt, wie man eine unglaubliche Schönheit liebgewinnt. Die Schönheit eines Landes, häufig die Schönheit Gottes, aber ebenso im Hohelied für die Liebe zwischen Geliebter und Geliebtem verwendet. Es ist nicht einfach die Kollegialität zwischen zwei Kameraden, die sich gegenseitig bewundern und für die selbe Sache kämpfen. So will G.K. Chesterton die Freundschaft zwischen Männern beschränken, darin sollte es keinen Raum geben für Schönheit und Attraktivität. In diesem naam geht es um gegenseitige Anziehung, also eine Form von erotischer Liebe. Der Mensch Jonatan hat David tief berührt und ihn angezogen, und diese Kraft, das Geschenk Jonatans, hat ihm mehr Boden gegeben in seinem Leben als die Liebe seiner Frauen. Da muss es nicht um die Erotik von Sexualität gehen. Es geht mehr darum, dass David durch die Liebe Jonatans das Wesen der Treue Gottes erfahren hat. Wenn wir hier von Freundschaft sprechen, dann sollten wir damit nicht meinen, dass die Liebe nicht ganz so intim oder intensiv war wie die Liebe einer Ehe. Sie geht ebenso tief oder noch tiefer.
Das Zweite ist das Wort „wundersam“ „Wundersamer war mir deine Liebe als die Liebe von Frauen.“ Das Wort wird gebraucht für Gottes Wundertaten, seine Herrlichkeit, etwas, das einem zum Staunen bringt und man nie ganz begreift. Es ist eine Tat Gottes, die einen Menschen so anrührt, dass er darin erkennt: Ich bin von Gott beschenkt. Ganz unerklärlich, aber ich erfahre darin die liebende Zuwendung Gottes. Die Liebe Jonatans war für David eine Erfahrung einer solchen Wundertat Gottes.
Das Wunder dieser Liebe widerfährt den beiden Männern, und sie entscheiden sich beide, es anzunehmen. Wir brauchen nicht zu spekulieren, ob es hier auch um Sexualität gegangen sei, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass hier eine Liebe beschrieben wird, die Lebens-prägend und Lebens-tragend ist, und die immer wieder durch einen Bund bekräftigt wird, der unauflöslich ist und eingehalten wird. Es ist keine Ehe, aber die Verbindung hat ebenso kräftige oder noch kräftigere Bedeutung, sie wird nicht gelöst bis zum Tod. Saul lehnt diese Verbindung ab, aber in der Geschichte wird sie nicht bewertet, und dass im Klagegesang Wörter verwendet werden, die stark auf die Liebe von und zu Gott verweisen, gibt ihr viel Gewicht. Sie verweist darauf, dass es in der Liebe von Menschen zueinander um so viel mehr geht, als dass man sie in das Raster von sexuellen Aspekten hineindrücken könnte.
Eine Geschichte, die uns beruft? Sie beschreibt ja erst einmal einfach, was sich im Laufe des Aufstiegs zum Königtum Davids ereignet, jenes Königs, der für die Geschichte Gottes mit der Menschheit aber Zeichencharakter hat. Aber da zeigt Jonatan einen Menschen, in dem sich Gottes Treue verwirklicht. Sie zeigt den Charakter und Wert von Freundschaft auf und grenzt sich da nicht ab gegen Männlichkeitsbilder, die auch damals umstritten waren. Sie setzt einen Kontrapunkt gegen dynastisches Denken, das Söhne und Töchter einengt in die ihnen von der Geschichte zugesprochene Position. Jonatans Weg ist wohl nicht der Weg von jedem oder jeder: Längst nicht jedem Menschen widerfährt, dass sich so wie Jonatan das Herz mit einem anderen verbindet. Und doch, die Entscheidungen, welche die beiden Männer auf ihrem Weg treffen, haben schon Zeichencharakter. Was löst sie denn aus, diese Geschichte? Möchte ich ein solcher Mensch sein? Wie kann ich dem treu sein, was ich als das wunderbare Geschenk Gottes erfahre, das mir durch einen anderen Menschen widerfährt? Dem hohen Lied Davids in seiner Trauer wird nicht widersprochen. Was David durch die hingebungsvolle Liebe dieses Mannes erfahren hat, spricht von den Wundertaten Gottes.
Und da ist noch eine andere Note: Wir leben in Zeiten der Polarisierungen, die Gegensätze werden verschärft gezeichnet, als gäbe es nur zwei Seiten und fast mit jedem Wort meint man, zeigen zu müssen, zu welcher Seite man gehört. Angstmacher wollen uns glauben machen, es gehe in Europa um einen Machtwechsel zwischen den Dynastien, die neu Ankommenden würden uns Lebensraum streitig machen. Ob nun Argumente dafür sprechen oder nicht: Dies ist der Blickwinkel Sauls. Jonatan blickt auf etwas anderes: Er will diesem Menschen, in dem er den Segen Gottes erkennt, zur Entfaltung verhelfen. Und wird dabei zum Geschenk Gottes an David. Für solche Freundschaften können wir uns entscheiden. Sie können uns frei machen, uns nicht von den Grenzziehungen bestimmen zu lassen. Die Entscheidung hat etwas damit zu tun, dass wir Augen und Herz offen halten, die Segensspur Gottes in den Menschen um uns zu erkennen.