Traum und Wirklichkeit

Die Covid-Pandemie könnte im Laufe dieses Jahres in unseren Breitengraden vorbei oder zumindest in die Schranken gewiesen sein. Das zumindest hoffen wir aufgrund der Aussicht, dass durch Impfung eines grossen Teils der Bevölkerung die Immunität genügend verbreitet sein wird und so unser Gesundheitssystem nicht länger bedroht sein wird. Das Virus wird bleiben, die Pandemie wird gebannt sein. – Vorausgesetzt es kommen nicht neue und virulentere Varianten, welche ansteckender, tödlicher und resistent sind.

Gewiss ist die Pandemie für die Gesellschaft ein Albtraum – und für viele Betroffene ist die durch Covid ausgelöste Krankheit ein absoluter Albtraum. – Wie werden wir als Gesellschaft aus diesem Traum erwachen? Wie wird es dann sein? Was werden wir gelernt haben?

David Graeber, US-amerikanischer Anthroploge, im Oktober 2020 mit 51 Jahren viel zu früh verstorben, schrieb kurz vor seinem Tod einen Essay, aus welchem das folgende Zitat stammt:

… Denn in Wirklichkeit war die Krise, die wir gerade erlebt haben, ein Aufwachen aus einem Traum, eine Konfrontation mit der tatsächlichen Realität des menschlichen Lebens. Sie besteht darin, dass wir eine Ansammlung zerbrechlicher Wesen sind, die füreinander sorgen, und dass diejenigen, die den Löwenanteil dieser Care-Arbeit leisten, die uns am Leben erhält, überfordert sind, unterbezahlt und täglich gedemütigt werden, und dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung überhaupt nichts anderes tut, als Fantasien zu spinnen, Mieten zu kassieren und generell denen im Weg zu stehen, die Dinge herstellen, reparieren, bewegen und transportieren oder sich um die Bedürfnisse anderer Lebewesen kümmern. Es ist zwingend notwendig, dass wir nicht wieder in eine Realität abrutschen, in der all dies eine Art unerklärlichen Sinn ergibt, so wie es sinnlose Dinge so oft in Träumen tun.

Übersetzt aus David Graeber: After the pandemic, we can’t go back to sleep. (Nach der Pandemie können wir nicht wieder schlafen gehen). Jacobin, USA 3.4.2021 (https://www.jacobinmag.com/2021/03/david-graeber-posthumous-essay-pandemic)

Graeber sagt, dass wir uns vor der Pandemie in einer Art Traum befunden haben, der der Wirklichkeit unseres Menschseins (und der Natur) weder entspricht noch gerecht wird. Er schlägt vor, nach der Pandemie die Wirklichkeit unseres Menschseins und die damit verbundene gegenseitige Abhängigkeit ins Auge zu fassen. Das würde bedeuten, die wirklich notwendigen, unentbehrlichen und dem Gemeinwohl zugute kommenden Care-Arbeiten entsprechend zu respektieren und auch entsprechend zu entschädigen.

Die Tiefe und Tragweite dieses Ansatzes lassen die Diskussionen um Maske und Einschänkungen als Geplänkel erscheinen. Wir West-Europäer hatten uns daran gewohnt, uns als unverletzlich und in Sicherheit zu wähnen. – Abgesehen von unserem Euro-Zentrismus. Nun werden wir uns dieses Wahns gewahr und sind zutiefst verunsichert. Daraus könnte durchaus ein neues, echtes Wachsein erwachsen, eine Aufmerksamkeit für das, worauf es wirklich ankommt. Und auch ein entsprechendes Handeln.