Pax-Boys: Beziehungen, die nachwirken

MCC-Pressedienst

Juli/August 2015

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  1. August 2015

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist in der Sommerausgabe 2015 des MCC-Magazins „A Common Place“ erschienen. Er darf gerne für Print- oder Onlinemedien übernommen werden.

Pax-Boys: Beziehungen, die nachwirken

Emily Loewen

Enkenbach/Pfalz (Deutschland) – Auch mit 85 erinnert sich Artur Regier noch genau an den Abend, als er vom Hof seiner Eltern in Westpreußen auf die Flucht ging.

Man schrieb 1945. Er war damals 15. Die Schüsse der sowjetischen Armee waren schon auf drei Kilometer herangerückt, und er flüchtete mit seiner Mutter und zwei Brüdern im Galopp zu Pferd.

Erst neun Jahre später konnte die Familie wieder ein Heim ihr Eigen nennen.

Sie fuhren auf einem für 250 Personen ausgelegten Schiff mit über 2000 Flüchtlingen an Bord über die Ostsee und lebten drei Jahre in einem Flüchtlingslager in Dänemark.

1954 konnten sie schließlich in Enkenbach ein eigenes Haus beziehen.

Dieses Haus war von jungen Freiwilligen im Rahmen des Pax-Programms gebaut worden. Mit diesem Programm gab das MCC jungen mennonitischen Kriegsdienstverweigerern aus den USA eine Möglichkeit zum Ersatzdienst. Sie konnten in den Nachkriegsjahren in Europa beim Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges helfen und den Menschen neue Hoffnung geben.

Allein in Enkenbach wurden durch das Pax-Programm 115 Wohneinheiten sowie ein Gebäude für die Mennonitengemeinde errichtet.

In Enkenbach gibt es viele Geschichten wie die von Artur Regier – Berichte von Menschen, die in ihrer Jugend zu Flüchtlingen wurden und sich mit Hilfe des MCC und seines Pax-Programms ein neues Leben aufbauten.

So zum Beispiel Louise Sauer, die zwei Jahre lang in einem Lager in Russland und dann in Holzbaracken in Deutschland gelebt hatte, wo es weder Bad noch fließend Wasser gab. Als ihre Familie ins neue Zuhause einzog, war das „für uns Kinder wie im Himmel“.

Edith Foth hat ihr Zuhause als Zehnjährige verlassen. „Wir dachten, in zwei Tagen sind wir wieder zu Hause, aber dann sind wir nie mehr zurückgekehrt“, sagt sie.

Am ersten Advent 1954 zog ihre Familie in ein neues von den „Pax-Boys“ gebautes Haus. „Das war ein großer Augenblick für uns. Ohne die Hilfe des MCC hätten wir uns nach dem Zweiten Weltkrieg niemals wieder ein eigenes Haus leisten können“, sagt Foth, die mehrere Monate lang mit den Pax-Freiwilligen zusammen auf der Baustelle gearbeitet hat.

Von 1953 bis 1961 kamen etwa 120 Pax-Boys nach Enkenbach. (Im Wesentlichen nahmen nur Männer – meist junge Männer – an dem Programm teil, aber es gab auch einzelne Frauen, die an Pax-Standorten Freiwilligendienst leisteten.)

Sie haben mehr hinterlassen als nur Gebäude. Im Pax-Haus kamen die Kinder zum Imbiss und zur Bibelstunde vorbei, zum Radiohören und zum Tischtennisspielen im Keller. Die Pax-Boys gründeten einen eigenen Chor und die Jugendlichen aus den Flüchtlingsfamilien schlossen sich an – und daraus entstand später der Chor der Enkenbacher Mennonitengemeinde.

Ervie Glick aus Harrisonburg/Virginia hat damals als Pax-Boy im Chor in Enkenbach mitgesungen. Er erinnert sich auch, wie er im Winter mit den Jugendlichen aus der Mennonitengemeinde Hockey gespielt hat. Am lebhaftesten steht ihm aber noch vor Augen, wie die Pax-Freiwilligen immer montags abends jeweils zu zweit zu Besuch bei den Familien waren, die in die neuen Häuser eingezogen waren.

Die Familien zeigten ihnen dann Fotos und erzählten von ihren früheren Häusern und von der Flucht nach Westen. „Die Trecks mit Pferden und Wagen wurden manchmal von Flugzeugen beschossen, dann sprangen alle in den Graben oder rannten vor den Flugzeugen weg. Das war ganz schrecklich“, sagt er. Die Familien waren sehr dankbar, wenn sie in die von den Pax-Boys gebauten Häuser ziehen konnten. „Mit den neuen Häusern konnten sie, nachdem sie sich eingerichtet hatten, auch eine Arbeit finden und wieder auf eigenen Füßen stehen.“

Die MCC-Hilfe in Europa beschränkte sich nicht auf Enkenbach. Schon kurz nach dem Krieg wurden in ganz Deutschland Nahrungsmittel, Kleidung und Hilfsgüter verteilt. In den Fünfzigerjahren wurden dann an mehreren Standorten Häuser von Pax-Boys gebaut.

Auch in Frankreich  wurde in kriegsbetroffenen Gebieten beim Wiederaufbau geholfen. In der kleinen Ortschaft Geisberg erinnern sich noch viele an die Jahre 1946 bis 1949, als MCC-Helfer dort Wohnhäuser und in der Nähe auch ein Waisenhaus bauten.

Hier erinnert man sich ebenfalls an mehr als nur Baumaßnahmen. Als die MCC-Freiwilligen eintrafen, war Théo Hege zwar erst sieben, aber er weiß noch, dass sie sonntags schon mal zum Essen kamen und ihm dann Süßigkeiten oder Briefmarken für seine Sammlung mitbrachten. „Sie haben uns beigebracht, dass man im Ort umherziehen und Weihnachtslieder singen kann und dass man einen Frühgottesdienst am Ostermorgen abhalten kann“, berichtet er.

Auch jetzt als älterer Mensch hat er noch Verbindung zum MCC – wirkt nun aber von der anderen Seite her mit.

Als die Mennonitengemeinde Geisberg Hilfsgüter für Menschen in Syrien sammelte, hat er mitgemacht. „Aus meiner Sicht ist das ein Ausdruck christlicher Nächstenliebe zu Menschen, die weniger haben als wir“, sagt Hege. „Wir teilen mit ihnen, was Gott uns in seiner Gnade geschenkt hat.“

Die Schwestern Agnes und Emma Hirschler wohnen in einem vom MCC gebauten Haus. Auch sie haben beim Sammeln der Hilfspakete mitgemacht und haben, wie Théo Hege sagt, dadurch „die Jüngeren daran erinnert, dass wir nicht vergessen sollen, dass auch uns in der Not geholfen wurde“.

Die Hilfslieferung, die über das MCC an die Empfänger ging, wurde von der Nothilfegruppe der Schweizer Mennoniten gemeinsam mit französischen Gemeinden koordiniert. Sie umfasste 1500 Hygienesets, 65 selbstgemachte Decken, 294 gekaufte Decken, 791 Nothilfesets und 144 Paar selbstgestrickte Socken, außerdem auch Handtücher und Bettwäsche.

In Deutschland hat auch die Mennonitengemeinde Enkenbach, zu der Regier, Sauer und Foth gehören, Geld und Sachspenden für die MCC-Hilfsarbeit bereitgestellt. Diese Spenden sind über das Mennonitische Hilfswerk gelaufen, das von 60 Mennonitengemeinden in Deutschland getragen wird.

Nun, 70 Jahre nach dem Krieg, können viele, denen das MCC einst geholfen hat, etwas zurückgeben, indem sie den Segen, der ihnen zuteilwurde, an andere weitergeben, deren Leben durch bewaffnete Konflikte aus dem Lot geraten ist.

„Wenn das Mennonitische Hilfswerk zu Spendenaktionen für MCC-Projekte aufruft, gebe ich immer gern“, sagt Artur Regier. „Ich werde nie vergessen, dass das MCC mir geholfen hat, als ich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst bedürftig war.“

Emily Loewen ist Autorin beim MCC Kanada.

Foto erhältlich: In Enkenbach/Pfalz (Deutschland) hält Rainer Schmidt ein Foto von Pax-Boys in der Hand, die gerade die Straße entlanggehen, in der er mit anderen noch heute in den Pax-Häusern wohnt. (MCC-Foto: Nina Linton)

Übersetzung: cof