Zum Jahreswechsel 2022-2023 – Hansuli Gerber
Schlechte und überwältigend bedrohliche Nachrichten prägen das auslaufende Jahr 2022. Die Bach-Kantate zum Sonntag nach Weihnachten spricht mir aus dem Herzen: „Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende, das neue rücket schon heran“. – Was wird es wohl bringen?
DIe katastrophalen Ereignisse im vergangenen Jahr ziehen bereits ihre Spuren, die über die gegenwärtigen Generationen hinaus gehen werden. Gewiss, Katastrophen und Zerstörung gibt es seit Menschengedenken. Doch fühlt sich die gegenwärtige Lage nicht irgendwie eigenartig an mit ihren vielfachen, sich überlappenden und einander verstärkenden Krisen? Am Roten Telefon, welches die Wochenzeitung Die Zeit eingerichtet hat, sagte eine Frau: “Die kalte Wohnung halte ich aus. Schlimmer ist die soziale Kälte”.
Du hast hoffentlich eine schön warme Wohnung, wie ich. Dennoch geht es dir vielleicht ähnlich wie dieser Frau? Hast du dich im Lauf des Jahres gelegentlich auch gefragt: welche neue Schreckensnachricht wird uns als nächstes wohl erreichen? Vielleicht fühlst du dich auch gelegentlich wie schwankend zwischen Endzeitstimmung und Zukunftsmut? Hast du dich auch schon gefragt, ob sich der Eurozentrismus, auf welchem unser Wohlstand ein gutes Stück weit auf Kosten anderer Bevölkerungen und der Natur aufgebaut ist, jetzt zu rächen beginnt? Und dann: Was können wir, was kann ich jetzt tun?
Wir werden uns rasch einig sein, dass dringend es Freundlichkeit braucht, Zuneigung, die Wärme verbreitet und Nachsicht, die befreit. Eine andere Frage stellt sich: Braucht es jetzt radikale prophetische Handlungen wie zum Beispiel diejenigen der Extinction Rebellion, oder eher bewusst ruhige Konzentration auf einen unerschütterlichen Ablauf des gewohnten Alltags mit seinen Routinen? Für beide diese Arten von Umgang gibt es sowohl stichhaltige Argumente wie auch historische, biblische und aktuelle Beispiele.
Ich finde beides notwendig, unbequemes prophetisches Handeln und ruhige Gelassenheit, welche auf die kleinen Dinge des Lebens Acht gibt. Ich will beides respektieren und auch fördern. Es ist mir wichtig, mit Menschen aus den oft radikalen Protestbewegungen (Klima, Krieg, Unterdrückung) in Tuchfühlung zu bleiben und Solidarität zu üben, und gleichzeitig so zu leben, wie Martin Luther es angesichts des morgigen Weltuntergangs empfahl: heute einen Apfelbaum pflanzen. Wir können nicht leben, als ginge alles so weiter. Zu viele Menschen sind willkürlichem Herrschaftswahn mit seinen entmenschlichenden Folgen unterworfen, fast überall auf der Welt.
Das Täufertum entstand in der radikalen Reformation. Radikalität ist nicht gleich Verzweiflung, im Gegenteil. MystikerInnen aller Zeiten haben radikal gelebt und gehandelt, weil sie sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden gaben und weil sie einfachen und raschen Lösungen misstrauten. Sie kannten den Rand des Abgrunds der Verzweiflung. Sie eckten oft an, wurden häufig nicht oder missverstanden. Nicht selten wurden sie gewaltsam verfolgt.
Es gibt keine Patentlösung für unsere Dilemmas angesichts der gegenwärtigen vielfachen und tiefgreifenden Krisen. Doch ich glaube fest, dass Menschen, die sich für radikale Menschlichkeit einsetzen und sich gewaltlos der Unmenschlichkeit widersetzen, unserer Welt gut tun. Ohne solche Menschen wären wir weit schlimmer dran. Das geht nicht ohne Vorstellungsvermögen, Phantasie und Kreativität. In christlichen Kreisen wird mit Nachdruck auf Stetigkeit von Glauben und Liebe hingewiesen – zurecht. Weit weniger im Blick jedoch ist das Vorstellungsvermögen, die spielerische Phantasie und Kreativität. Wir wissen heute, dass in der Friedensarbeit und im zivilen gewaltlosen Widerstand ohne diese Qualitäten wenig auszurichten ist.
Ich muss mich auch fragen, was ich mich solchen Widerstand kosten lassen will. – Wohlwissend, dass Widerstand eigentlich nur im Kollektiv sinnvoll und wirksam ist. Ich habe grössten Respekt für Menschen, die ausserordentliches wagen für ihr Zeugnis der Hoffnung auf Liebe und Gerechtigkeit und ihren Widerstand gegen Gier und Gewalt, gegen den Fatalismus des Wachstumswahns, des Techno-Kapitalismus, des Kriegsglaubens und des ganz einfachen und ach so harmlos daherkommenden Status Quo.
Nochmals zur Kantate zum Jahreswechsel (BWV 28). Der Philosoph Markus Gabriel sagte dazu: “Es geht hier um die Schönheit, um das Gute und um Gott.” Nichts davon haben wir im Griff. Doch wir können uns der Schönheit aussetzen und öffnen, das Gute suchen und tun, und unser Vertrauen in Gott (den niemand je gesehen hat) setzen. Zu Weihnachten, wo die Christen die Menschwerdung Gottes in einem schwachen Kind erkennen, und für das neue, noch unbekannte Jahr, wünsche ich uns allen Mut, Kraft, und Vorstellungsvermögen. Wir werden sie brauchen in unserer so geliebten und so verdorbenen Welt. – Glauben wir eigentlich, dass sie mehr geliebt als verdorben ist?