Referat von Ramazan Özgü, gehalten an der Tagung „Welcher Pazifismus heute?“ am 19. November 2022.
Unter Polarisierung im politischen wie gesellschaftlichen Sinne wird der Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung und Fragmentierung verstanden. In diesem Kontext fallen insbesondere zwei Formen der Polarisierung ins Auge: die themen- und die gruppenbezogene Polarisierung. Ich werde in meinem Beitrag versuchen, beide Punkte aufzugreifen und dabei exemplarisch vorzugehen:
Zunächst einmal mit einem Todesfall aus Frankreich, der während der Pandemie für Furore gesorgt hat. Im Herbst 2020 steigen zwei Männer in den Bus ein, den Philippe Monguillot fährt. Beide treten bedrohlich und leicht reizbar auf. Sie haben zudem kein Billet. Es gibt eine kurze Diskussion, Schimpfworte fallen, aber Philippe Monguillot bleibt trotzdem ruhig und zeigt den beiden, wie sie am Automaten ein Ticket lösen können. Scheinbar beruhigt sich die Lage, nachdem diese den Bus verlassen haben.
Vier Stunden später steigen die beiden Männer erneut in den Bus, diesmal ist ein weiterer Freund mit einem Kampfhund mit von Partie. Sie nehmen hinten Platz, betrinken sich, beschimpfen und provozieren den Chauffeur. Als an der Station Balichon ein vierter Kollege des Trios zusteigt, eskaliert die Situation. Philippe Monguillot steigt aus, geht nach hinten und weist die Männer darauf hin, dass sie ohne Masken und ohne Billett aussteigen müssten. Es kommt zu einer Rauferei, die mit dem Tod des Busfahrers endet. Abgesehen von Rücksichtslosigkeit, Geringschätzung des Lebens und Lust an der Gewalt ist zu jenem Zeitpunkt kein Tatmotiv erkennbar. An einer Pressekonferenz erklärte Staatsanwalt Marc Mariée am 7. Juli, der Chauffeur sei beschimpft und angegriffen worden, als er die Tickets kontrollieren wollte und an die Maskenpflicht erinnert habe. Wie bei vielen anderen Verbrechen versuchen Politiker:innen und Medien, aus der Tat Kapital zu schlagen. Alle lesen aus dem Verfall heraus, was ihnen gerade passt. Rassemblement national führt den Tod von Philippe Monguillot einzig auf die Migration zurück, einige verbreiten falsche arabische Täternamen und stellen das Foto eines Mannes mit maghrebinischen Wurzeln ins Netz, welcher mit dem Fall keine Berührungspunkte hatte. Etliche Medien fokussieren sich dabei auf die Triggerworte «Maske» und «Maskenpflicht». Jene Worte, die in diesem Sommer fast überall auf der Welt polarisiert und hohe Einschaltquoten garantiert. Es habe sich in Frankreich ein tödlicher Streit «um Masken» und «Masken-Regeln» zugetragen: «Weil er seine Fahrgäste aufforderte, Masken zu tragen, prügelten sie auf ihn ein», behauptet der «Spiegel». «Streit über Maskenpflicht endet mit Hirntod», titelt der «Deutschlandfunk». Die fehlenden Tickets werden in den meisten Berichten nur en passant erwähnt, und über die vorhergehenden Beschimpfungen der Täter erfährt man kaum etwas, die als «Maskenverweigerer» oder «Masken-Gegner» bezeichnet werden.
Meinungsverschiedenheiten sind wichtig für eine lebendige Demokratie, doch wenn sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstehen, wird es schwer, Debatten zu führen und Kompromisse zu finden. Die themenbezogene Polarisierung war während der Pandemie omnipräsent, was die mediale Wahrnehmung auch stark beeinflusst hat. Beispielsweise liessen sich viele Menschen bei der Frage nach der Authentizität von genannten Nachrichten von gängigen Stereotypen und Vorurteilen leiten, die sie in ihren Köpfen gespeichert haben, was die Spaltung der Gesellschaft beschleunigt und polarisiert.
Vorurteile, Stereotypen, die allgegenwärtig sind – eventuell auch harmlos wirken – können in bestimmten Situationen auch verheerende Folgen haben. Ein Beispiel wäre das klar antisemitische Vorurteil, Juden seien reich. Für viele mag das in Anführungs- und Schlusszeichen ein “positives” Vorurteil sein, jedoch bekräftigt dies das angebliche Weltjudentum, wonach Juden die Welt regieren würden. Mit anderen Worten: Wer an das Stereotyp “Juden sind reich” glaubt, wird auch im Weltjudentum irgendwann Gefallen finden. Vor allem während der Krisenzeiten.
Während der Pandemie haben beispielsweise judenfeindliche Verschwörungs-Erzählungen an Zulauf gewonnen, was vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund bestätigt wird. So hat Anfang 2021 die Partei National Orientierter Schweiz (PNOS), die in der Zwischenzeit aufgelöst wurde, die Protokolle der Weisen von Zion in ihrem Parteimagazin veröffentlicht, ein judenfeindliches Dokument, dessen Falschheit vor Jahrzehnten nachgewiesen wurde. Zudem war die Devise eines Teilnehmers an einer Anti-Corona-Massnahmen-Demonstration in Zürich, die Rothschilds würden hinter den Covid-Massnahmen stecken. Unsere Erfahrung aus der Geschichte macht deutlich, wohin das letzten Endes führen kann.
Zu Recht bezeichnet der Genozidforscher Gregory Stanton Polarisierung als Teil eines systematischen Völkermordes. Laut Stanton gilt sie als fünfte Stufe des Genozids. In dieser Stufe wird polarisierende Propaganda durch Hassgruppen ausgestrahlt. Segregation erhält Struktur, wie beispielsweise durch Gesetze und Restriktionen, die Mischehen verbieten oder die soziale Interaktion erschweren. Um die Polarisierung weiterhin zu schüren, werden moderate Meinungen, die als Brückerbauer:innen fungieren könnten, eingeschüchtert, verhaftet oder ermordet. Laut Stanton bleibt zwischen den Stufen Polarisierung und Vernichtung nur noch die organisatorische Frage übrig. Den Begriff Vernichtung “Extermination” wählt Stanton bewusst, da die Völkermord-Verbrecher:innen nicht glauben, dass ihre Opfer vollwertige Menschen sind. Denn vor der radikalen Polarisierung beginnt die Leugnung der Menschlichkeit der anderen Gruppe. Mitglieder dieser Gruppe werden mit Tieren, Insekten oder Krankheiten gleichgesetzt. Die Entmenschlichung überwindet die normale menschliche Hemmung vor dem Morden. Während dieser Stufe wird die Opfergruppe durch Hasspropaganda in den Medien herabgewürdigt. Nun, was könnte in dieser Stufe gemacht werden, um den Frieden zu wahren: Um gegen die Entmenschlichung vorzugehen, sollte man Anstiftung zu Völkermord nicht mit freier Rede verwechseln und diese dementsprechend strafrechtlich ahnden. Lokale und internationale Multiplikator:innen sollten Hassreden verurteilen und sie für kulturell inakzeptabel erklären. Führende Stimmen, die zu Völkermord aufrufen, sollten internationale Einreiseverbote bekommen und ihre ausländischen Konten eingefroren werden.
Welchen Einfluss die Dehumanisierung auf die gesellschaftliche Differenzierung ausüben kann, möchte ich anhand eines Beispiels aus der Türkei aufzeigen. Nach dem Korruptionsskandal in 2013 schürte Erdogan ein Feindbild gegen Menschen, die sich mit der Hizmet-Bewegung sympathisieren. In seinen öffentlichen Auftritten bezeichnete er diese: Achtung Trigger-Alarm:
“Virus, Tumor, Blutegel, Verräter, verräterisches Netzwerk, Bande, verzaubert, wir werden ihre Höhlen betreten, stinkender, fauler, verzweifelte, Ich bezweifle ihren Glauben, Lügner, Hohlheit, Schachfiguren, Blutsauger, Blutfresser, Ketzer, sie gründen Parallelreligion, Sklaven von Israel, CIA-Agenten, Vampire usw.”
In den staatlich gelenkten Medien hat man Hizmet-Sympathisant:innen nur noch mit diesen entmenschlichenden Schimpfbezeichnungen genannt. Folge: Das Feindbild festigte sich dermassen in den Köpfen von Menschen, sodass Folter, Vergewaltigungen, Pogrome, willkürliche Verhaftungen von Hizmet-Sympathisant:innen als legitim betrachtet wurden.
Ein weiteres Beispiel lässt sich jüngst in Iran beobachten. Um verstehen, wie es dazu kam, bedarf es einer kurzen Geschichtskunde:
Die Freiheit, selbst über das Kopftuch bestimmen zu dürfen, entzog bereits der Schah Reza Pahlevi den Iranerinnen. Er wollte sein Reich nach dem türkischen Vorbild modernisieren. Islamische Kleidung wurde als ein Symbol, das der Modernisierung widerspricht, betrachtet. Der autoritäre Schah verbot 1936 das Kopftuch. Für viele Iraner:innen war das ein Angriff auf ihre Werte. Als 1941 der Schah abdankte, bedeckte ein Teil der Iranerinnen seine Haare demonstrativ wieder. Das Kopftuch war auch ein Symbol des Widerstands. Der Nachfolger verfolgte zwar weiter einen Kurs der westlichen Modernisierung, doch das Verbot des Kopftuchs verschwand. Die iranische Gesellschaft begann sich jedoch zu spalten: Eine Oberschicht orientierte sich an Europa und lebte in Wohlstand, während das Leben für eine breite Bevölkerung hart blieb. Das Kopftuch wurde somit zum Statussymbol. Vorsichtig könnte man zum Ausdruck bringen: Das Proletariat trägt Kopftuch.
Die Unterstützer:innen der islamischen Revolution in 1979 gehörten allen Gesellschaftsschichten an. Die Frauen, die massgeblich am Umsturz beteiligt waren, hatten genug vom brutalen Schach-Regime, vom Leben in Armut, vom Einfluss des Auslands. Die Iranerinnen vereinte die Ablehnung des Schah-Regimes, ihre Ideen für das Leben danach konnten aber kaum unterschiedlicher sein. Das zeigte sich besonders deutlich am Kopftuch. Für Konservative war der Hijab ein Symbol der islamischen Revolution. Er ermöglichte vielen Iranerinnen aus traditionellen Kreisen, stärker am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich weiterzubilden. Für viele andere wurde das Stück Stoff zum Symbol der Unterdrückung. Sie freuten sich darauf, am 8. März 1979 den internationalen Frauentag zu feiern, doch stattdessen hörten sie Khomeiny in einer Rede sagen, Frauen müssten nun ein Kopftuch tragen.
Die Proteste waren so gross, dass das neue Regime vorübergehend davon absah, auf dem Zwang zum Hijab zu beharren. Doch bereits im Juli 1980 wies Khomeiny Ministerien an, darauf zu achten, dass sich Frauen islamisch kleideten. Schrittweise verbot die Regierung unverschleierten Iranerinnen den Zugang zur Gesellschaft, Proteste dagegen wurden niedergeschlagen. Ab dem Sommer 1981 wurde die Verschleierung auf der Strasse mithilfe der Revolutionswächter und der Sittenpolizei durchgesetzt. Seit 1983 ist es für alle Frauen und Mädchen ab neun Jahren obligatorisch, einen Hijab zu tragen.
Bis heute kämpfen Iranerinnen gegen ihre Unterdrückung und dafür, frei entscheiden zu können, wie sie sich kleiden. Die Frage, ob sie ihre Haare in der Öffentlichkeit zeigen dürfen, steht für viele im Mittelpunkt dieses Kampfes. Der Hijab ist für sie sinnbildlich für all das Unrecht, das sie seit Jahrzehnten erleben.
Seit Mitte September nun gehen wieder Tausende von Iraner:innen auf die Strassen – es sind die heftigsten Proteste seit mehreren Jahren. Ausgelöst hat sie die 22-jährige Mahsa Amini, die von der Religions- und Sittenpolizei in Teheran so schwer misshandelt wurde, dass sie drei Tage später in einem Spital starb. Ihr Vergehen: Sie war nicht korrekt islamisch gekleidet.
Hier kann man Parallelen zur Türkei ziehen. Bei der Machtübernahme von Erdogan spielte das Kopftuchverbot an den Universitäten eine wichtige Rolle. In den 90er Jahren war es Frauen verwehrt, mit Kopftuch öffentlich-rechtliche Institutionen zu betreten und zu studieren. Studierende mit Kopftuch mussten Hörsäle verlassen. Viele religiös geprägte Frauen haben heute genau aus diesem Grund Angst vor einem Regierungswechsel. In vielen öffentlichen Auftritten schürt Erdogan weiterhin diese Angst. Mit der Wortwahl “meine Kopftuch tragenden Schwester” suggeriert er, dass er als älterer Bruder dafür sorgen werde, sie zu beschützen. Dabei handelt es sich um eine reine Angstmacherei, da die Opposition sich längst für die Versöhnung mit damaligen Opfern eingesetzt hat.
Kopftuchpflicht wie auch Kopftuchverbot gehen von patriarchalen Überlegungen aus, wonach Männer Frauen zu beschützen haben. Auch gegen ihren Willen. Die Kopftuchdebatte polarisiert die Gesellschaft, wie wir heute sehen. Täglich werden Menschen brutal ermordet, weil sie Freiheit fordern. Ich möchte die Gelegenheit hier nutzen, um zum Ausdruck bringen, dass ich mich mit all diesen mutigen Demonstrant:innen solidarisiere: Frau, Leben, Freiheit.
Nun, was hilft gegen Polarisierung? Der US-Amerikanische Philosoph Jay Garfield schreibt in seinem Essay “Polarisierung zerstört unsere Demokratie” folgendes: “Ohne einen stabilen öffentlichen Raum für Diskussionen können wir in der Demokratie keine Probleme lösen.“ Sein Appell für Respekt und den aufrichtigen Dialog mit Andersdenkenden kann auch für uns nützlich sein. Der Dialog, welcher mit Respekt fundiert wird, schafft eine gemeinsame Basis zur Überwindung von Polarisierungen. Hier bedarf es moderate Menschen, die in jeglicher Situation nicht müde werden, Brücken zu bauen.
Das Fehlen von moderaten Stimmen in der Funktion der Brückenbauer:innen oder noch schlimmer „das Schweigen der Mitte“ genannt, wie das Buch von Ulrike Ackermann betitelt wurde, treibt die Polarisierung auf die Spitze. Die Menschheitsgeschichte zeigt, dass dies verheerende Folgen haben kann.