31. März 2018 – Ich war eben im Begriff, einen Artikel über den Vorabend von Pessach zu schreiben, als ich mich erinnerte, dass ich genau denselben Artikel von sechs Jahren geschrieben habe. Also schicke ich den alten Artikel noch einmal – ich habe ihm nichts hinzuzufügen.
Ich schreibe dies am Freitagabend, dem Vorabend von Pessach. In diesem Augenblick sind Millionen Juden in der Welt um den Familientisch versammelt und halten Seder, indem sie laut alle aus demselben Buch, der Haggada, lesen, in dem die Geschichte vom Auszug aus Ägypten, vom Exodus, erzählt wird.
Der Einfluss dieses Buches auf das jüdische Leben ist unermesslich. Jeder Jude nimmt seit frühester Kindheit an dieser Zeremonie teil und spielt im Ritual eine aktive Rolle. Jeder jüdische Mann nimmt ebenso wie jede jüdische Frau in sein späteres Leben eine Erinnerung an die Wärme und Zusammengehörigkeit der Familie und an die magische Atmosphäre mit; dazu die offenbare und unter der Schwelle des Bewusstseins liegende Botschaft, die der Text vermittelt.
Derjenige, der das Seder- („Ordnungs-„) Ritual viele Jahrhunderte zuvor erfunden hat, war ein Genie. Alle menschlichen Sinne sind beteiligt: sehen, hören, riechen, berühren und schmecken. Zum Ritual gehört es, eine ritualisierte Mahlzeit einzunehmen, vier Gläser Wein zu trinken, verschiedene symbolische Gegenstände zu berühren und ein Spiel mit den Kindern zu spielen (ein zuvor verstecktes Stück Matze suchen). Die Feier endet mit dem gemeinsamen Singen einiger religiöser Lieder. Die Wirkung von dem allen zusammen ist magisch.
Stärker als jeder andere jüdische Text baut die Haggada das jüdische Bewusstsein – oder eher: Unterbewusstsein – auf, heute ebenso wie in der Vergangenheit, und beeinflusst unser kollektives Verhalten und die israelische Nationalpolitik.
Es gibt viele verschiedene Sichtweisen auf dieses Buch.
LITERATUR: Als literarisches Werk ist die Haggada eher von geringem Wert. Der Text entbehrt der Schönheit und ist voller Wiederholungen, Plattitüden und Banalitäten.
Das mag überraschen. Die hebräische Bibel – die Bibel in Hebräisch – ist ein Werk einzigartiger Schönheit. An vielen Stellen ist ihre Schönheit berauschend.
Die Gipfel der westlichen Kultur – Homer, Shakespeare, Goethe oder Tolstoi – können ihr nicht das Wasser reichen. Auch spätere religiöse jüdische Texte – Mischna, Talmud und so weiter – enthalten Passagen von literarischem Wert, allerdings sind sie nicht so erhebend. Die Haggada hat keinen hohen literarischen Wert. Sie ist ein Text, der allein zur Indoktrinierung gedacht ist.
GESCHICHTE: Fehlanzeige. Zwar erhebt sie den Anspruch, Geschichte zu erzählen, hat jedoch nichts mit realer Geschichte zu tun.
Nicht der geringste Zweifel kann mehr daran bestehen, dass sich der Exodus niemals ereignet hat. Weder der Exodus noch die Wüstenwanderung noch die Eroberung Kanaans.
Die Ägypter waren besessene Geschichtsschreiber. Viele Zenttausende von Tafeln wurden bereits entziffert. Unmöglich hätte ein Ereignis wie der Exodus stattfinden können, ohne dass lang und breit darüber berichtet worden wäre. Jedenfalls nicht, wenn es darum gegangen wäre, dass 600.000, wie die Bibel erzählt, oder 60.000 oder auch nur 6000 Menschen aufgebrochen wären. Schon gar nicht, wenn während dieser Flucht ein ganzes ägyptisches Armee-Kontingent mitsamt seinen Streitwagen im Meer versunken wäre.
Dasselbe gilt für die Eroberung. Wegen berechtigter Sorgen um die Sicherheit beschäftigten die Ägypter eine Menge Spione: Reisende, Händler und andere, die im benachbarten Kanaan ununterbrochen jedes Ereignis in jeder einzelnen Stadt genau beobachteten, nachdem zuvor einmal von dort asiatische Stämme (Hyksos genannt) in Ägypten eingefallen waren. Selbst von einer kleinen Invasion Kanaans wäre berichtet worden. In den Aufzeichnungen wird jedoch von keinen anderen Invasionen als den regelmäßig wiederkehrenden Invasionen von Beduinenstämmen berichtet.
Außerdem gab es die in der Bibel erwähnten Städte zu der Zeit, als das Ereignis stattgefunden haben soll, noch gar nicht. Erst als die Bibel geschrieben wurde, im ersten oder zweiten Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung, gab es diese Städte.
Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, dass trotz etwa hundert Jahren fieberhafter archäologischer Suche von frommen Christen und zionistischen Eiferern kein Körnchen eines konkreten Beweises für die Eroberung Kanaans gefunden wurde (noch auch dafür, dass die Königreiche Sauls, Davids oder Salomons jemals existiert hätten).
Aber ist das wirklich wichtig? Nein, kein bisschen!
Die Pessach-Geschichte leitet ihre enorme Kraft nicht davon ab, dass sie den Anspruch erheben würde, historisch zu sein. Sie ist ein Mythos, der die Fantasie des Menschen ergreift, ein Mythos, der die Grundlage einer großen Religion ist, ein Mythos, der das Verhalten der Menschen bis auf den heutigen Tag bestimmt. Ohne die Exodus-Geschichte gäbe es wahrscheinlich heute keinen Staat Israel, und wenn doch, dann gewiss nicht in Palästina.
DER RUHM: Man kann die Exodus-Geschichte als leuchtendes Beispiel von allem Guten und Inspirierenden in den Annalen der Menschheit lesen.
Dies ist die Geschichte eines kleinen und ohnmächtigen Volkes, das sich gegen eine brutale Tyrannei erhebt, seine Ketten abwirft, eine neue Heimat gewinnt und dabei auf dem Weg noch einen revolutionären neuen Moralkodex erschafft.
Wenn man es so sieht, ist der Exodus ein Sieg des menschlichen Geistes, eine Inspiration für alle unterdrückten Völker. Und tatsächlich hat die Geschichte in der Vergangenheit viele Male diesem Zweck gedient. Die Pilgerväter, die Gründer der amerikanischen Nation, waren davon ebenso inspiriert wie viele Rebellen im gesamten Laufe der Geschichte.
ANDERERSEITS: Wenn wir den biblischen Text aufmerksam und ohne religiöse Scheuklappen lesen, geben uns manche Aspekte andere Denkanstöße.
Nehmen wir einmal die Zehn Plagen. Warum wurde das gesamte ägyptische Volk für die Missetaten des einzigen Tyrannen Pharao bestraft? Warum erlegte ihnen ein göttlicher Sicherheitsrat grausame Sanktionen auf, verseuchte ihr Wasser mit Blut, zerstörte ihre Lebensgrundlagen durch Hagel und Heuschrecken? Und, was noch grausamer war, wie konnte ein gnädiger Gott seine Engel schicken, damit sie jedes erstgeborene ägyptische Kind ermordeten?
Die Israeliten wurden ermuntert, beim Verlassen Ägyptens ihren Nachbarn ihr Eigentum zu stehlen. Es ist schon recht seltsam, dass der biblische Geschichtenerzähler, der ja gewiss tief religiös war, nicht wenigstens diese Einzelheit wegließ. Und das nur ein paar Wochen, bevor Gott persönlich den Israeliten die Zehn Gebote gab, deren eines heißt: „Du sollst nicht stehlen!“
Niemand scheint sich jemals viele Gedanken über die ethische Seite der Eroberung Kanaans gemacht zu haben. Gott versprach den Kindern Israels ein Land, das die Heimat anderer Völker war. Er sagte ihnen, sie sollten diese Völker töten und befahl ihnen ausdrücklich, Völkermord zu begehen. Aus einem besonderen Grund griff Er das Volk der Amalekiter heraus und befahl den Israeliten, es ganz und gar auszurotten. Später wurde der ruhmreiche König Saul von Seinem Propheten entthront, weil er Gnade gezeigt und seine amalekitischen Kriegsgefangenen – Männer, Frauen und Kinder – nicht ermordet hatte.
Natürlich wurden diese Texte von Menschen längst vergangener Zeiten geschrieben, als die Ethik der Einzelnen und der Nationen – also auch die Kriegsregeln – eine andere war als heute. Aber die Haggada wird – heute wie früher – unkritisch rezitiert, ohne dass jemand über diese schrecklichen Aspekte nachdenkt.
Besonders in den religiösen Schulen im heutigen Israel nehmen Lehrer und Schüler das Gebot, Völkermord an der nicht jüdischen Bevölkerung Palästinas zu begehen, ziemlich wörtlich.
INDOKTRINATION: Darum geht es mir vor allem bei diesen Reflexionen.
Es gibt in der Haggada zwei Sätze, die immer starken Einfluss auf die jeweilige Gegenwart hatten und auch auf die heutige Gegenwart haben.
Einer enthält die zentrale Idee, auf die fast alle Juden ihre Anschauung von Geschichte gründen: „In jeder Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu vernichten.“
Das bezieht sich nicht etwa auf eine besondere Zeit oder einen besonderen Ort. Es wird als ewige Wahrheit angesehen, die für alle Orte und alle Zeiten gilt. „Sie“ ist die gesamte Außenwelt, alle Nichtjuden überall.
Kinder hören dies am Seder-Abend auf den Knien ihres Vaters, lange bevor sie lesen und schreiben können, und von da an hören und rezitieren sie es jahrzehntelang in jedem Jahr. Dieser Satz drückt die vollkommen bewusste oder unbewusste Überzeugung fast aller Juden aus, ganz gleich, ob sie in Los Angeles in Kalifornien oder in Lod in Israel leben. Er bestimmt ganz gewiss die Politik des Staates Israel.
Der zweite Satz, der den ersten ergänzt, ist ein Schrei zu Gott: „Schütte deinen Grimm auf die Völker, die dich nicht kennen, und auf die Königreiche, die deinen Namen nicht anrufen. Denn sie haben Jakob gefressen und seine Stätte verwüstet. … Schütte deinen Grimm auf sie aus! Möge Dein flammender Zorn sie einholen! Vertilge sie unter den Himmeln Gottes!“
Das Wort „Völker“ hat in diesem Text eine doppelte Bedeutung. Das hebräische Wort ist „gojim“, ein alt-hebräisches Wort für „Völker“. Sogar die Kinder Israels wurden gelegentlich „heiliger Goi“ genannt. Aber im Laufe der Jahrhunderte hat das Wort eine andere Bedeutung angenommen und wird auf sehr abwertende Weise auf alle Nichtjuden bezogen. (Wie es in dem jiddischen Lied heißt: „Oi, oi, oi,/ Betrunken ist der Goi.“)
In vielen Übersetzungen wird das Wort „vertilge“ in „verfolge“ verändert.
Um diesen Text angemessen zu verstehen, muss man daran denken, dass er als Schrei aus dem Herzen eines wehrlosen, verfolgten Volkes kam, das über keine Mittel verfügte, sich an seinen Peinigern zu rächen. Damit die Feiernden ihren Geist am frohen Seder-Abend erheben konnten, mussten sie ihr Vertrauen auf Gott setzen und zu Ihm schreien, Er solle an ihrer Stelle Rache nehmen.
Während des Seder-Rituals wird die Tür immer offen gelassen. Angeblich geschah das, damit der Propheten Elias eintreten könne, wenn er wunderbarerweise von den Toten auferstehen sollte. In Wirklichkeit geschah es, um den Gojim den Blick ins Haus freizugeben, damit sie sich davon überzeugen könnten, dass die antisemitische Verleumdung, Juden backten ihr ungesäuertes Pessachbrot mit dem Blut entführter christlicher Kinder, völlig unberechtigt sei.
DIE LEHRE: In der Diaspora war das Sehnen nach Rache ebenso verständlich wie wirkungslos. Die Gründung des Staates Israel hat diese Situation jedoch vollkommen verändert. In Israel sind die Juden alles andere als wehrlos. Wir müssen uns nicht auf Gott verlassen, damit Er das – wirkliche oder eingebildete – Böse räche, das uns in der Vergangenheit angetan worden ist oder in der Gegenwart angetan wird. Wir können unseren Grimm selbst ausschütten: über unsere Nachbarn, die Palästinenser oder andere Araber, über unsere Minderheiten und alle unsere Opfer.
Das sehe ich als wirkliche Gefahr der Haggada an. Sie wurde von wehrlosen Juden geschrieben, die in immerwährender Gefahr lebten. Einmal im Jahr erhob die Lesung der Haggada ihren Geist. Dann fühlten sie sich einen Augenblick lang sicher und inmitten ihrer Familien von Gott geschützt.
Wenn wir die Haggada aus ihrem Kontext reißen und auf eine neue, vollkommen andere Situation anwenden, kann uns das auf einen schlimmen Kurs bringen. Wir reden uns ein, alle wären darauf aus, uns zu vernichten, gestern und wenn nicht heute, dann doch ganz gewiss morgen, und wir verstehen den großspurigen Wortschwall eines iranischen Großmauls als lebendigen Beweis für die Geltung der alten Maxime: Sie sind darauf aus, uns zu töten, also müssen wir – einer anderen alten jüdischen Aufforderung zufolge – sie zuerst töten.
An diesem Seder-Abend wollen wir darum unsere Gefühle von den edlen, inspirierenden Teilen der Haggada leiten lassen, dem Teil, der uns von den Sklaven erzählt, die sich gegen Tyrannei erhoben und ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen. Den Teil, der vom Ausschütten des Grimms handelt, wollen wir lieber beiseitelassen.
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler. Mit freundlicher Genehmigung von Lebenshaus Schwäbische Alb