In den 80er Jahren ist für manche – jetzt ältere – unter uns das Thema Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung (GFS) wichtig geworden. Heute, wo wir von Multikrise sprechen, zeigt sich, wie der Titel der damalig recht starken Bewegung, welche in Kirchen und Gesellschaft bei weitem nicht von einer breiten Mehrheit mitgetragen wurde, von Weitsicht zeugte: Heute steht uns allen mit grosser Dringlichkeit vor Augen, dass diese drei Dinge eng miteinander verbunden sind. Ungerechtigkeit und Unfriede, insbesondere Gewalt, bedrohen die Schöpung und unser aller Lebensraum und Lebensgrundlagen, nicht in ferner Zukunft, sondern für eine zunehmende Anzahl Menschen unmittelbar und direkt.
Es steht uns erschreckend klar vor Augen wie wirschaftliche Gier und politisches Versagen, sowie damit einher gehende strukturelle und physische Gewalt, Zerstörung der Natur und des sozialen Gefüges hervorbringen und hinterlassen. Armut und Krieg sind keine Fatalitäten. Sie sind nicht Naturkatastrophen. Sie enstehen aus Gier und Gewalt, aus einer skrupellosen Entschlossenheit der absoluten Macht, welche Menschen sich aneignen und für sich in Anspruch nehmen. Wir sehen heute klarer als noch in den 80ern, wie Vorherrschaft und Privilegien sich ganze Systeme errichtet haben, um sich selber aufrecht zu erhalten. Zwar hat schon Hannah Arendt in den 50er Jahren festgestellt: Das höchste Gesetz eines Staates ist seine eigene Sicherheit (in Wahrheit und Politik). Anders gesagt: Wenn’s drauf ankommt, dann gelten Menschenleben weniger als die von ihnen und zu ihren Gunsten errichteten Einrichtungen. Madleine Abright, seinerzeit Aussenministerin der USA, sagte im Dezember 1996, dass der Krieg der USA gegen den Irak den Tod von 500’000 Kindern wert war. Die verheerenden Folgen, welche dieser mit unwahren Begründungen veranstaltete Krieg hinterlassen hat, dauern heute an. Das ist die Logik von Kriegen zu allen Zeiten. Erst lange im Nachhinein scheint „man“ zur Vernunft der Menschlichkeit zu kommen, die vor und während dem Krieg vergessen geht bzw. unterdrückt wird. Der 1. Weltkrieg wurde erst nach dem 2. Weltkrieg als sinnloses Gemetzel bezeichnet.
Doch, es gibt Hoffnung und Lösungsansätze: überall auf der Welt, zu oft von Medien unbeachtet und sicher nicht in den Nachrichten auftauchend, melden sich Stimmen zu Wort, unternehmen durch die Erfahrung von Unrecht und Gewalt furchtlos gewordene Menschen gemeinsam Experimente und entwerfen Projekte, die der Menschlichkeit, Solidarität, Freiheit, Würde und der Umwelt förderlich sind. Oft werden solche Schritte gegen den Wind, gegen Vorurteile, Feindlichkeit, Missachtung und verbale wie physische Angriffe unternommen. Das ist das Los unzähliger Widerstände überall da, wo Menschen sich nicht länger gefallen lassen können, was sie zu lange erduldet haben. Oft sagen Leute: ja, bei uns die in einer Demokratie leben ist das einfach. Die Forschung zeigt aber, dass Widerstand in nicht-demokratischen Ländern nicht weniger ist. Menschen – nicht alle – überall sind seit jeher bereit, für ihre Rechte und die Rechte anderer einzustehen, auch wenn es was kostet.
Zum Europatag vom 9. Mai fand in La Chaux-de-Fonds eine Veranstaltung statt mit Fatima Ouassak, Politologin und Aktivistin aus einem Quartier Populaire nahe von Paris. Der Titel lautete wie Fatima’s zweites Buch „Für eine Piraten-Ökologie – und wir werden frei sein“ (Pour une écologie pirate – et nous serons libre. La Découverte, 2023). Für Fatima Ouassak, welche in Marokko geboren wurde und in Frankreich am eigenen Leib erfahren hat, wie es ist, wenn man aus populistischer Sicht „nicht hierher gehört“, ist klar: ein Engagement für die Umwelt ist nur sinnvoll und tauglich wenn es die Frage der Inklusion und der Bewegungsfreiheit mit im Auge hat. Menschen im globalen Süden sind einem rein auf Ökologie bedachten Engagement aus dem Nordwesten nicht gut gesinnt, denn der Wohlstand hier ist nicht zuletzt auf Kosten der Menschen im Süden zu stande gekommen (Kolinialismus), und wird weitgehend auch auf ihre Kosten aufrecht erhalten – wenn’s sein muss mit Gewalt. Viele Menschen (lange nicht alle) im Norden sind zwar privilegiert aber sie sind nicht wirklich frei. Menschen afrikanischer und/oder islamischer Herkunft sind auch nicht frei, ihre Körper, sagt Fatima, sind aber nützlich für die Arbeit und den Konsum. Doch sie sind deutlich weniger privilegiert.
Freiheit, Teilhabe und Sorge zur Umwelt sind Anliegen, die zusammen gehören und keines davon darf auf Kosten eines anderen ausgetragen werden. Fatima ist überzeugt, dass Menschen aus den Armutsvierteln in Europa und Menschen in Ländern des Südens bzw. in Afrika durchaus Möglichkeiten haben, Dinge zu bewegen sofern sie diese Zusammenhänge ernst nehmen. Das wird angesichts der Zunahme des Rechtsextremismus in Europa nicht einfacher aber dennoch nicht weniger möglich. Dem Rechtsextremismus, der nicht nur in Frankreich grassiert, sondern in ganz Europa sich schleichend breit macht, geht es ausgesprochenermassen darum, die sogenannte christlich-jüdische Tradition zu schützen, auch hier mit Gewalt wenns sein muss. Ein anderer Afrikastämmiger Franzose, Georges Haddad, im Unterschied zu Fatima, welche muslimisch aufgewachsen ist, aus dem Judentum kommend und bedeutend älter, betont in seinen Büchern, dass wir Europäer eigentlich weniger einem jüdisch-christlichen Erbe verdanken als einem griechisch-abrahamischen. Das Christentum, wie wir es kennen, war vom helenistischen Denken mehr beeinflusst als vom jüdischen. Christen, Juden und Muslime entstammen alle der Familie Abrahams. Darin liegen grosse Chancen und die Bibel berichtet von einigen gelungenen Beispielen des Zusammenlebens.
Zusammenfassend besteht Fatima Ouassak darauf, dass das weltweit aktive System (wirtschaftlich und politisch), welches die Umwelt zerstört, auch die Ungleichheiten mit ihrer Gewalt nicht nur hervorbringt, sondern auch aufrecht erhält. Deshalb ist es wichtig, die Dinge ganzheitlich im Auge zu haben. Ein auf dieser Weitsicht beruhendes Engagement wird prophetisch sein und etwas bewegen.