Hat man SIE einer Hirnwäsche unterzogen?

Von Uri Avnery, veröffentlicht am 8. Juni 2018

ES IST ERSCHRECKEND. Gewissenlose Psychologen setzen im Dienste eines böswilligen Regimes ausgeklügelte Techniken ein, um aus der Ferne das Denken eines Menschen zu steuern.

Der Ausdruck „Gehirnwäsche“ entstand 1950. Es ist ein chinesisches Wort („xinao“, wörtlich: waschen Gehirn). Ursprünglich bezeichnete das Wort eine Technik, die führende Köpfe Chinas erfunden hatten, um das Denken amerikanischer Gefangener im Koreakrieg zu manipulieren – jedenfalls wurde der Anspruch erhoben: Sie könnten die mentalen Prozesse der Gefangenen verändern und sie zu Agenten finsterer Mächte machen.

Viele Bücher und Filme stellten dar, wie das funktioniert. Zum Beispiel zeigt der klassische Film Botschafter der Angst („The Manchurian Candidate“, 1962), wie die Kommunisten den Geist eines amerikanischen Offiziers in koreanischer Kriegsgefangenschaft manipulieren und ihm den Auftrag geben, den Kandidaten für das Präsidentenamt in den USA zu töten. Dem amerikanischen Offizier ist nicht bewusst, dass er in einen kommunistischen Agenten umgedreht worden ist. Er erinnert sich nicht daran, dass ihm unter Hypnose ein Befehl gegeben wurde, und wenn er diesem Befehl gemäß handelt, weiß er das nicht.

DIESER HANDLUNGSVERLAUF ist so lächerlich wie die meisten pseudo-wissenschaftlichen Darstellungen. Tatsächlich kann man den Geist von Menschen, von Einzelnen wie von Kollektiven, viel leichter manipulieren.
Zum Beispiel die Nazi“propaganda“. Adolf Hitler selbst hat sie erfunden. In seinem Buch Mein Kampf stellt er dar, wie er als Soldat im Ersten Weltkrieg an der Westfront Zeuge davon wurde, wie erfolgreich die britische Propaganda war: Die Briten warfen Flugblätter über den Schützengräben der Deutschen ab und erschütterten auf diese Weise das Vertrauen der Soldaten in ihre Führung.

Als Hitler in Deutschland an die Macht kam, betraute er seinen treuen Handlanger, Joseph Goebbels, mit der Schaffung eines Propaganda-Ministeriums. Goebbels machte Propaganda zu einer Kunstform. Eines seiner Mittel war, alle deutschen Medien – Zeitungen und das Radio – in ausführende Organe der Regierung zu verwandeln. Das wurde „Gleichschaltung“ genannt: alle Bestandteile wurden an eine einzige elektrischen Leitung angeschlossen. Dem war zu verdanken, dass Nazi-Deutschland noch lange, nachdem schon klar war, dass es den Zweiten Weltkrieg verlieren würde, weiterkämpfte.

Eines der Mittel war, die deutsche Öffentlichkeit von allen anderen Informationsquellen abzuschneiden. Jedes Medium verkündete lauthals die offizielle Propaganda. Deshalb war es ein Kapitalverbrechen, ausländische Radiosender zu hören, und wurde dementsprechend streng bestraft.

So kam es, dass viele Deutsche selbst dann noch an den „Endsieg“ glaubten, als die Sowjets im Osten und die Angelsachsen im Westen bereits die deutschen Grenzen überschritten hatten.

IST TATSÄCHLICH ein diktatorisches Regime – ein Nazi- oder ein kommunistisches Regime – notwendig, um die Medien in Gehirnwäsche-Maschinen zu verwandeln? Der gesunde Menschenverstand sagt, dass das in einer Demokratie unmöglich sei. Der gesunde Menschverstand irrt.

Wir sollten daran denken, dass Hitler mithilfe demokratischer Mittel an die Macht kam. Auch heute gewinnen fanatische Nationalisten in vielen Ländern die Wahlen. Alle ihre Führer sind darauf aus, die Gerichte zu zerstören, die Parlamente mit Idioten zu füllen und – insbesondere – die Medien in Instrumente der Gehirnwäsche umzuwandeln. Auch in unserem Land ist das so.

Wie geschieht das? Es ist wirklich ganz einfach: Man muss nur alle anderen Stimmen unterdrücken. Man muss sicherstellen, dass die Bürger nur eine einzige Stimme hören. Eine Stimme, die einige wenige Botschaften immer wieder und endlos wiederholt. Auf diese Weise wird Lüge zur Wahrheit.

In einer derartigen Situation gelangt der einfache Bürger zu der Überzeugung, das, was die offizielle Linie vertritt, sei tatsächlich seine eigene Meinung. Es ist ein unbewusster Prozess. Wenn einer einem Mitbürger sagt, er sei einer Gehirnwäsche unterzogen worden, ist der zutiefst beleidigt.

Gehirnwäsche wird in den letzten Jahren in Israel praktiziert. Der Bürger ist sich nicht bewusst, dass das geschieht. Er liest verschiedene Zeitungen, sieht die Sendungen verschiedener Fernsehsender und hört Radio: alle diese Medien scheinen frei miteinander zu diskutieren und sogar zu streiten. Die Bürger sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass bei dem einen, über unser Leben entscheidenden Thema, nämlich Krieg und Frieden, alle Medien miteinander in einer einzigen Linie der Gehirnwäsche „gleichgeschaltet“ sind.
IN DEN letzten Wochen haben wir ein Musterbeispiel dieses Mechanismus erlebt. Die Ereignisse an der Grenze zum Gazastreifen haben den Mechanismus der Gehirnwäsche auf eine Weise belebt, um die diktatorische Regime in aller Welt uns nur beneiden können.

Wir wollen uns einer Selbstprüfung unterziehen: Was haben wir im Radio gehört? Was haben wir im Fernsehen gesehen? Was haben wir in den Zeitungen gelesen?

Innerhalb weniger Wochen wurden mehr als hundert Palästinenser erschossen und viele Tausende wurden durch scharfe Munition verwundet. Warum?

„Wir mussten auf sie schießen, weil sie den Grenzzaun gestürmt haben“. Und haben die Bewohner von Gaza nicht schließlich selbst verkündet, sie „wollten nach Hause zurückkehren“, womit sie meinten: in das Gebiet zurückkehren, das heute Israel ist?

Am Montag, dem 14., dem „schwarzen Montag“, wurden 63 unbewaffnete Demonstranten erschossen und mehr als 1500 durch scharfe Munition verwundet. Jeder Israeli erfuhr, dass das notwendig gewesen sei, weil Demonstranten den Zaun gestürmt hätten und im Begriff gewesen seien, sich in Israel auszubreiten. Niemand achtete auf die einfache Tatsache, dass es kein einziges Foto gab, das dieses Ereignis zeigte. Kein einziges. Trotz der Tatsache, dass es auf beiden Seiten des Zauns Hunderte Fotografen gab, darunter israelische Armee-Fotografen, die jede Einzelheit festhielten. Zehntausende stürmten und kein einziges Bild davon?

Man achte auf den Gebrauch des Wortes „Terror“. Es ist zu einem Wort geworden, das jedem anderen Wort hinzugefügt werden kann. Es gibt nicht einfach nur Tunnel, nein, sie sind alle immer „Terror-Tunnel“. Es gibt „Terror-Aktivisten“. Jetzt gibt es „Terror-Drachen“. Merke: nicht „Feuerbrand-Drachen“ oder „Zerstörungs-Drachen“, sondern „Terror-Drachen“. Dasselbe kommt Tag für Tag in den Medien. Irgendjemand hat diese Entscheidung über die Terminologie getroffen. Natürlich ist jeder, dessen Namen das Wort „Terror“ hinzugefügt wird, ein „Kind des Todes“, wie wir im biblischen Hebräisch sagen. Das ist ein weiteres, ein stolzes Wort in der Gehirnwäsche.

Die Bewohner des Gazastreifens sind „Terroristen“. (Im Hebräischen wurde ein besonderer Ausdruck erfunden: „Mechablim“). Alle? Natürlich. Ohne jede Frage. Besonders die Mitglieder der Hamas. Aber Hamas ist eine politische Partei, die die demokratischen Wahlen in ganz Palästina gewonnen hat. Eine zivile Partei, die zwar einen militärischen Flügel hat, aber in unseren Medien sind alle Mitglieder und Unterstützer der Partei „Terroristen“, Kinder des Todes. Natürlich.

Dass diese Ausdrücke Tag für Tag unzählige Male wiederholt werden, stellt eindeutig eine Gehirnwäsche dar: Es ist ein Vorgang, den die Bürger nicht bemerken. Sie gewöhnen sich daran zu glauben, alle Bewohner Gazas seien Terroristen, mechablim. Das ist ein Prozess der Entmenschlichung, im Nazijargon wurden Menschengruppen „Untermenschen“ genannt. Es ist erlaubt, ja wünschenswert, Entmenschlichte zu töten.
In einer solchen Atmosphäre wird nicht einmal bemerkt, dass manche Sätze ganz und gar verabscheuungswürdig sind. Zum Beispiel habe ich diese Woche in einer Fernsehsendung aus dem Mund eines Militärkorrespondenten, der über eine bevorstehende Demonstration in Gaza sprach, den folgenden Satz gehört: „Der Iran möchte tote Demonstranten und es sieht so aus, als würde er die bekommen.“ Man muss diesen Satz zweimal lesen, um zu verstehen, was er bedeutet: Die israelischen Scharfschützen dienen den Interessen des Iran.

Oder ein Satz, der sogar von geachteten Kommentatoren immer aufs Neue wiederholt wird: „Der Iran will den Staat Israel zerstören“. Weder ich noch der Schreiber weiß, was 80 Millionen Iraner wollen. Aber der Satz an sich ist schon lächerlich. Israel ist eine Atommacht. Wie vernichtet man eine Atommacht (die Unterseeboote besitzt, die in der Stunde der Not Atomwaffen einsetzen können)? Sind die Iraner bereit, ihr Land – eine Wiege der Menschheitskultur – in einen Friedhof und in eine Wüste zu verwandeln?

Oder eine Voraussage: „Am Freitag wird eine weitere Demonstration mit Gewaltakten stattfinden“. „Eine weitere“? „Mit Gewaltakten“? Unbestreitbar ist die Tatsache, dass alle Demonstrationen entlang des Zauns zu Gaza vollkommen gewaltfrei waren. Die Demonstranten gaben keinen einzigen Schuss ab, als Tausende von ihnen von scharfer Munition verwundet und mehr als hundert getötet wurden. Und doch wird die Lüge kommentarlos hingenommen.

In keiner einzigen von Hunderten von Fernseh-Nachrichten-Sendungen werden derartige Behauptungen von Korrespondenten jemals korrigiert. Der Grund dafür ist, dass Intendanten, Moderatoren, Kommentatoren und Korrespondenten selbst einer sorgfältigen Gehirnwäsche unterzogen wurden. Der Armeesprecher kennt natürlich die Wahrheit, aber er ist ein wichtiges Zahnrad in der Gehirnwäsche-Maschine.

DIE EREIGNISSE erreichten ihren Höhepunkt, als die 21-jährige Rettungssanitäterin Rasan Aschraf al-Najjar ermordet wurde. 1 Sie hatte versucht, einem verwundeten Demonstranten das Leben zu retten. Der Scharfschütze, der sie in die Brust schoss, hat gesehen, dass sie eine Sanitäterin war, die einen Verwundeten behandelte. Es war eindeutig ein Kriegsverbrechen.

Gab es einen öffentlichen Aufschrei? Forderten die Medien eine Untersuchung? War dieses Ereignis den Medien eine Schlagzeile wert? Hielt die Knesset eine Schweigeminute ab? Nichts von alledem. Eine kleine Nachricht in einigen – bei Weitem nicht allen – Zeitungen. Ein ausgezeichneter Artikel der bewundernswerten Amira Hass in Haaretz. Das war alles.

Ein paar Tage vergingen und dann gab es im Ausland Aufschreie. Das argentinische Fußball-Team mit dem bewunderten Messi sagte ein Freundschaftsspiel gegen das israelische Team ab, das in Jerusalem stattfinden sollte.

Den Gehirnwäschern wurde klar, dass es ihnen unmöglich war, nicht zu reagieren. Und so veröffentlichte ein Armeesprecher eine Verlautbarung, in der es hieß, dass es eine Untersuchung gegeben habe. Was hat sie aufgedeckt? Es sei eindeutig aufgeklärt worden, niemand habe Razan erschossen. Sie sei von einem Querschläger getroffen worden, der weit weg von ihr auf dem Boden aufgeschlagen sei. Das ist eine krasse Lüge, für die sich sogar ein Armee-Lügner schämen sollte. Die Öffentlichkeit, die ja einer Gehirnwäsche unterzogen worden ist, schluckte das.

Ein Kennzeichen der Gehirnwäsche ist ein Phänomen, das alle wahrnehmen können: die vollkommene Abwesenheit einer zweiten Meinung. Bringt irgendjemand, wenn ein Kommentator die offizielle Linie über ein Ereignis zum Ausdruck gebracht hat, eine alternative Sichtweise zum Ausdruck? Gibt es eine Debatte zwischen dem offiziellen Sprecher und einem Kommentator, der eine andere Meinung vertritt? In demokratischen Medien wäre das selbstverständlich. Hier bei uns ist es sehr, sehr selten.

WAS KANN man gegen solche Gehirnwäsche tun?
Nicht viel.

Zuallererst gibt es die lebensentscheidende Notwendigkeit einer zweiten Stimme. Gehirnwäsche kann nur dann wirken, wenn die offizielle Stimme das vollständige Monopol besitzt. Das zu brechen war eines der Ziele von HaOlam HaSeh, der Wochenschrift, die ich 40 Jahre lang herausgab. Sie trat jeder unwahren Darstellung der Regierung mit einer entgegengesetzten Darstellung entgegen. Zwar war unsere Stimme im Vergleich zur (selbst damals schon) mächtigen Regierungsmaschinerie schwach, aber jedenfalls verhinderte die Tatsache, dass es zwei Stimmen gab, wie ungleich an Macht sie auch waren, eine vollkommene Gehirnwäsche. Der Bürger hört zwei Fassungen einer Geschichte und fragt sich: „Welche ist die richtige?“

Wenn alle Friedens- und Menschenrechts-Gruppen in Israel ein gemeinsames Informationszentrum, das sich Aufmerksamkeit verschaffen kann, eröffnen würden, vielleicht könnte dann das Monopol der offiziellen Propaganda gebrochen werden. Vielleicht.

Im Land gibt es eine winzige Gruppe von Kommentatoren, die sich nicht davor fürchten, die Wahrheit zu sagen, auch wenn das als Verrat betrachtet wird. Gideon Levy, Amira Hass und einige andere. Wir müssen sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden. Wir müssen ihnen Mut machen.
Alle Medien müssen gedrängt werden, unterschiedliche Sichtweisen auf Krieg und Frieden darzustellen, dazu, dass sie auch den „Feind im Innern“ zu Wort kommen lassen, sodass der Bürger in der Lage ist, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Den ausländischen Medien muss der freie Zugang zu den Informationsquellen gestattet werden, selbst auf die Gefahr hin, dass sich diese Medien dann kritisch, „feindlich“ und „antisemitisch“ äußern könnten. Freunde des Friedens zwischen Israelis und Palästinensern im Ausland müssen ermutigt werden, die Medien in ihren Ländern zu drängen, dass sie die Wahrheit über das veröffentlichen, was hier bei uns geschieht.
Ich mag das Wort „müssen“ nicht. Aber in diesem Zusammenhang reicht kein anderes Wort aus.
DIE MACHT, über die angesichts einer Gehirnwäsche-Maschinerie die Wahrheit verfügt, ist immer eng begrenzt. Aber schließlich, auch wenn es bis dahin einige Zeit dauern wird, wird die Wahrheit siegen. Dazu bedarf es mutiger Menschen.

Der Film Botschafter der Angst endet überraschend: In letzter Minute erschießt der Mann, der der Gehirnwäsche unterzogen wurde, nicht den Präsidentschaftskandidaten, sondern den kommunistischen Agenten, der dessen Platz einnehmen sollte.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler