Es gilt seit langem als erwiesen und wird immer wieder erwähnt: Bildung und Freiheit gehören zusammen. Vor kurzem sind zwei Menschen verstorben, welche diesbezüglich konstruktive und nachhaltige Spuren hinterlassen: Gustavo Gutierrez, 96, aus Peru und Fetullah Gülen, 83, aus der Türkei. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die beiden je begegnet sind, haben sie doch in zwei verschiedenen und gar getrennten Welten gelebt und gewirkt. In gewissem Sinn hat Gustavo Gutierrez für Kirche und Theologie ähnliches gewirkt wie Fetullah Gülen für den Islam und das muslimische Denken. Beide haben die Institutionen ihrer Religion und ihre Gläubigen vor grosse Herausforderungen gestellt, ihnen aber zugleich Gründe zu Engagement und Hoffnung eröffnet. Damit schafften sie sich allerdings nicht nur Freunde. Eigentlich haben sie jedoch bestehende aber verneinte oder vernachlässigte Herausforderungen beschrieben und gängige Spiritualität und Praxis hinterfragt. Das bringt natürlicherweise Konflikte zum Vorschein und trägt zugleich zur Erneuerung bei.
Fetullah Gülen, welcher die grösste zivilgesellschaftliche Bildungsbewegung der modernen Türkei, Hizmet (Dienst) begründete, sagte vor Jahren – zum Entsetzen mancher Fundamentalisten – nun müssten nicht mehr Moscheen, sondern mehr Schulen gebaut werden. Für Gustavo Gutierrez, der als Begründer der Befreiungstheologie gilt, sollte die Kirche nicht den Kolonialherren zu diensten sein, sondern wie Jesus solidarisch sein mit den Ärmsten und mit denen, die unter das Rad der Geschichte geraten.
Solidarität ist für beide, Gülen und Gutierrez, praktisch und gleichzeitig nicht von Spiritualität zu trennen. Bildung und Dienst, wie es Gülen’s Vision war, sind der Befreiung aus Knechtschaft und Abhängigkeit jeder Art dienlich. Befreiung braucht es heute nicht weniger als zur Zeit von Gutierrez. Wo die Menschheit Befreiung braucht, wird uns tagtäglich vorgezeigt: Krieg, Machtgehabe, Umweltzerstörung, Tyrannei in jeder Form. Und nein, es gibt kein Rezept und keinen Zauberstab dagegen, weder politisch noch ein religiös. Es gibt Hinweise, Einladungen, Beispiele, Fantasie, Ideen und Vorstellungskraft. Es bestehen Glaube, Hoffnung, Liebe. Diese zum Ausdruck bringen ist der wirksamste Widerstand und es ist keine Geste zu klein.