Als die Begriffe “Radikalismus” und “Radikalisierung” in Politik und Medien geläufig wurde – im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten unter islamistischen Fahnen – hat mich das zunehmend irritiert. Ich hatte vor bald 50 Jahren von der radikalen Reformation erfahren. Diese Begrifflichkeit befand sich zwar nicht im exklusiven Besitz meiner täuferischen Tradition, aber sie steht bestimmt für grundlegende Veränderung und für etwas zutiefst spirituelles, welches absolut konstruktiv wirkt. Es gab um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also im Zuge der Industrialisierung, die politische radikale Bewegung, welche u.a. in der liberal-radikalen Partei mündete. Echte Radikalität respektiert das menschliche Gewissen und seine Würde. Sie sucht, den Menschen im Wandel und Trubel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zu schützen.
Angesichts der Beschlagnahmung der Begrifflichkeit um die Radikalität fühlte ich mich dieser kostbaren Terminologie beraubt: Durch Staatsmänner welche es vorziehen, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten und durch Medienschaffende, welche am liebsten blutige Spektakel darstellen wollen. Nun interessierte mich, was Hannah Arendt mit der “Banalität des Bösen” meinte und wovon Immanuel Kant in seiner Schrift vom “radical Bösen in der menschlichen Natur” sprach. Mir gefällt die Aussage von Hannah Arendt, eigentlich eine Schlussfolgerung, dass nur das Gute wirklich radikal ist.
Ich habe schon immer gedacht, Radikalität sei eine kostbare Sache, wenn heute auch unpopulär: Radikal sein heisst, der Sache auf den Grund gehen. Radikale Veränderung ist tiefgreifender, vollständiger und nachhaltiger als Reformation, weil sie Transformation von den Wurzeln her sucht, statt sich zufrieden zu geben mit Reparaturen von etwas, das an sich verkehrt oder korrupt ist. War es nicht solche radikale Transformation wofür die Täufer des Mittelalters standen und verfolgt wurden?
Ich begann, dieser Sache nachzugehen. Schaute auf die Bedeutung der Worte, auf die Bilder und die Symbole. Je mehr ich fand, umso mehr fühlte ich mich beraubt, spürte den Himmel schief liegen. Was, wenn der Begriff “Radikalisierung” nur ein Vorwand ist für den wirklich schrumpfenden Raum des individuellen und kollektiven Handelns und der Freiheit? Wer und was genau ist bedroht durch wen und was genau? Sind die Proportionen des Kriegs gegen den Terrorismus nicht längst ausser Rand und Band? Wer glaubt denn wirklich daran, dass sämtliche Jugendliche der Welt sich ISIS anschliessen wenn nicht ein andauernder Ausnahmezustand verhängt und dieser Krieg weiter ausgedehnt wird? Werden wir dann wirklich alle von „Allah u Akbar“ schreienden Djihadisten überrannt werden? Und ganz abgesehen davon, was soll das ganze Gelaber um Radikalisierung? Oder ist es letzten Endes perfide Strategie? Geht die wahrhaftige Gefahr nicht vielmehr von den Mächten und Gewalten aus, die ihre Herrschaft zu verallgegenwärtigen und zu verewigen suchen?
Umso mehr war ich ausser mir vor Freude, als ich beim Stöbern in der Abteilung Philosophie in einer Buchhandlung in Nizza auf das Buch stiess mit dem Titel “Konfiskation – für eine andere Radikalität”. Die Autorin, Marie-José Mondzain, französische Philosophin, ist spezialisiert auf den Umgang mit Bildern und Symbolen und sie bietet eine passionierte und tiefgreifende Analyse.*
Mondzain protestiert nicht nur gegen die Konfiszierung des Begriffs Radikalisierung, sie untersucht auch die mittlerweile gängig gewordene De- oder Ent-Radikalisierung. Sie schreibt: Radikalität wird nun reduziert, um doktrinäre Überzeugungen und Strategien der Indoktrination zu bezeichnen und danach zu suggerieren dass eine Deradikalisierung genügt um Gewalt aus der Welt zu schaffen und Versöhnung zu bringen, welche mit der Welt einig geht, die solche gewalttägige Auswüchse hervorgebracht hat.
Hannah Arendt’s Antwort auf die Anschuldigung, sie habe Kant’s radikal Böses in eine Banalität des Bösen umgeleitet, lautet dass das Böse nie radikal sei, dass es bloss extrem sei und weder tief sei noch dämonische Dimensionen habe. Es kann die ganze Welt einnehmen und verwüsten eben weil es sich wie ein Pilz unmerklich ausbreitet. Es fordert das Denken heraus weil das Denken die Tiefe sucht, weil es nach den Wurzeln greift. Nur das was wirklich gut ist, ist tief und kann radikal sein, sagt Arendt.
Radikalität, sagt Mondzain, darf nicht weiterhin eine Krankheit der Andern sein, aber muss ein positiver Vorschlag unser aller werden. Dies bedarf einer gewissen Vorstellungskraft. Wie wir in den vergangenen Jahren gelernt haben, bedarf Friedensbildung auch der Vorstellungskraft (Imagination). Doch unsere Vorstellungskraft droht von der Konfiskation sowohl der Sprache wie auch der Bilder durch den vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen – und religiösen? – Diskurs in Beschlag genommen und seiner Kreativität beraubt zu werden.
Die frühen Täufer hatten verstanden, dass etwas grundsätzlich falsch war im Aufbau der damaligen Gesellschaft und mit der Art, wie diese kontrolliert wurde. Das konnte nicht einfach mit der Abschaffung der Messe, des Ablasses und anderer Mittel zur ewigen Seligkeit korrigiert werden, noch würde ein Umkrempeln der Lehre und der Bildersturm das Problem lösen. Auch war es nicht genug, das Bekenntnis zu ändern um zu sagen “Allein durch den Glauben, allein die Gnade, allein die Schrift”. Die Gewalten mussten getrennt werden, die Waffen niedergelegt, persönliche Freiheit musste gewährt und das Gewissen respektiert werden. Das war in der Tat radikale Vorstellungskraft und Forderung, denn es ging über Religion und ihre Symbole hinaus um die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen und ihre Praxis zu verändern.
Statt Repression zu steigern und ausgeklügelte Systeme einzusetzen um junge Menschen zu de- radikalisieren, deren Träume pervertiert worden waren, muss die Gesellschaft sich heute den Werten zuwenden, welche die Menschheit seit jeher inspiriert und Gemeinschaften in grosser Verschiedenheit aufgebaut haben: Respekt, Liebe, Gastfreundschaft, Wahrheit, Gerechtigkeit. Die Reformation – und besonders die radikale Reformation – zeigt, dass Menschen Glauben finden und Heilung erfahren jenseits von Dogma und Institution. Wie kommt es dann, dass in der heutigen, sich atemberaubend schnell wandelnden Welt die Doktrin des Nationalismus, der Macht und des Wohlstands sich als unantastbar darstellt und es Menschen verbietet, jenseits der bekannten Herrschaftsverhältnisse von einer ganz anderen, besseren Welt zu träumen? Es mag sein, dass die meisten Menschen nicht von Sozialismus träumen und lieber ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer Familie fördern. Doch es ist auch wahr dass die meisten unter ihnen wirklich an Gemeinschaft interessiert sind und viele sich engagieren über ihre eigene Gemeinschaft und Nation hinaus. Denn sie haben verstanden, dass das Wohlergehen ihrer Grosskinder direkt mit dem Wohlergehen der Grosskinder ihrer Feinde zusammenhängt, wie es John Paul Lederach schrieb.
Laut einem vom amerikanischen Radiosender NPR zitierten Experten ist ein Kriterium der Radikalisierung der Glaube dass Utopia erreicht werden kann. Nach dieser Definition müssten wir alle Radikale sein. Sollten die heutigen Täufer (der linke Flügel der Reformation) sich nicht als Radikale deklarieren um so die Paradigmen zu überwinden, welche das Böse, das sie auszurotten vorgeben, doch nur vervielfachen? Der Weg zu wirklicher Freiheit erstreckte sich langwierig durch die Reformation und dann rascher seit dem frühen 20. Jahrhundert. Doch wir sind weit davon entfernt, wirklich frei zu sein und diejenigen, welche behaupten, die Vergessenen vor den Eliten zu retten, bauen neue Mauern und entfachen neue Kriege – errichten in Wahrheit eine Super-Elite. So werden wir alle und alles in allem zu besseren Sklaven. In diesem Umfeld ist radikale Liebe und Gastfreundschaft von Not, wie auch Widerstand. Dieser Ruf geht an alle, die den Mut und den Glauben finden, gleich den Propheten aller Zeiten.
* Marie-José Mondzain; Confiscation : Des mots, des images et du temps. Pour une autre Radicalité. Liens qui libèrent (Les) 2917