Solidarität wird Mangelware

Ich schreibe diesen Beitrag, nachdem die Rentenreform 2020 abgelehnt wurde.  Diese Abstimmung hat meines Erachtens viel zu tun mit Gerechtigkeit, (sozialem) Frieden und Solidarität. Die Einführung der AHV vor fast 70 Jahren war eine Pionierleistung bezüglich Altersvorsorge und Stärkung der sozial Schwachen. Die letzten drei Revisionen wurden alle vom Volk abgelehnt. Alle Parteien und Verbände sind sich einig, dass eine Reform dringend ist, um längerfristig die Finanzierung der Altersvorsorge zu sichern. Der vorgeschlagene Kompromiss der Rentenreform 2020 ist die Frucht von über 6 Jahren Arbeit, begeisterte aber niemanden wirklich ganz. Er entspricht aber dem politisch Machbaren. Ich will hier nicht über die komplizierten einzelnen Massnahmen sprechen, sondern diese Abstimmung in einen grösseren Zusammenhang stellen.

 

Die Abstimmungskampagnen und das Resultat sind ein Zeichen für die zunehmende Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft. Das längerfristige Ziel vor allem von FDP, SVP und den Wirtschaftsverbänden ist, staatliche Aktivitäten und Aufgaben zu reduzieren und diese dem privaten Wirtschaftssektor zuzuführen (Stichwort Abbau der Staatsaufgaben und Reduktion der Steuern für Unternehmer und Reiche). Folgerichtig soll die AHV zugunsten der zweiten und der dritten Säule gestutzt werden. Dies ist aus meiner Sicht aus zwei Gründen bedenklich und gefährlich: Erstens ist die AHV die einzige Form der Altersvorsorge, die eine solidarische Umverteilung von hohen Einkommensbezügern zu Menschen mit kleinen oder keinem Einkommen bringt: Die AHV Beiträge werden prozentual auf dem Einkommen erhoben, während die AHV Renten auch für Superreiche einen Maximalbetrag nicht überschreiten. Damit trägt die AHV massgeblich dazu bei, Altersarmut zu verringern und Ergänzungsleistungen auf einem tragbaren Niveau zu halten. Bei der zweiten und dritten Säule findet keine Umverteilung von reich zu arm statt, weil jeder erhält, was er während seiner Lebensarbeitszeit einbezahlt hat. Wer die AHV kürzt, erhöht das ohnehin starke Gefälle zwischen arm und reich und erhöht längerfristig das Risiko sozialer Unrast und von sozialen Konflikten.

Zweitens führt die Zunahme von zweiter und dritter Säule zur verstärkten Privatisierung dieses Geschäftes in den Händen von Banken und Versicherungen. Diese maximieren ihre Profite zulasten der Interessen der Versicherten. Die steigenden, aber oft nicht transparenten Verwaltungs- und Bearbeitungsgebühren bei Banken und Versicherungen lassen den für den Versicherten verbleibenden Teil tendenziell schrumpfen.

 

Ist es zynisch anzunehmen, dass FDP und SVP entgegen ihrer geäusserten Sorge, dass die vorgeschlagene Rentenreform deshalb abzulehnen sei, weil sie die AHV nicht langfristig sicherstellt, eigentlich daran interessiert ist, die AHV durch die Nichtreform finanziell in Schieflage zu bringen? Damit wäre der Weg für sie frei, ohne Rentenerhöhung Rentenalter 67 für Männer und Frauen vorzuschlagen. Dies wäre ein grosser Nachteil für Menschen, die schwere körperliche Arbeit verrichten, also wieder für jene, die tendenziell wenig verdienen, aber auch für Frauen, ganz zu schweigen von allen 50+, die entlassen werden und kaum mehr Arbeit finden und damit der Allgemeinheit, d.h. dem Steuerzahler zur Last fallen.

 

Die Ablehnung der Rentenreform reiht sich ein in andere vorgeschlagene Entsolidarisierungsmassnahmen wie die bevorstehende Unternehmenssteuerreform, die Schwächung respektive Abschaffung der SRG durch die No-Bilag Initiative oder den Leistungsabbau bei der Post.

 

Bisher war der soziale Frieden und ein sehr gut ausgebauter Service Public ein Merkmal der Schweiz und ein Standortvorteil für viele Unternehmer. Ist die politische Rechte daran, diesen Bonus leichtfertig aufs Spiel zu setzen?

 

Luc Bigler, 24.09.2017