Was Frieden schafft

Schafft Religion Frieden oder Gewalt?

 

Imagine there’s no heaven
It’s easy if you try
No hell below us
Above us only sky
Imagine all the people
Living for today…

Imagine there’s no countries
It isn’t hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion too
Imagine all the people
Living life in peace…

 

„Imagine there’s no heaven“ – Stell dir vor: keinen Himmel, nichts, für das man töten oder sterben würde, keine Religion, nur Leute, die fürs Heute, in Frieden zusammenleben.

Würde man heute eine Umfrage auf der Strasse machen, die meisten würden wohl in John Lennons Friedenshymne einstimmen. In Anlehnung an Sozialtheorien behaupten die Religionskritiker, jede Religion fördere Gewalt. Religion würde absolute Wahrheits- und Geltungsansprüche fördern, und wer felsenfest von etwas überzeugt sei, lebe nur schlecht mit Leuten zusammen, die ihre Überzeugung nicht teilten. Wer glaubt, dass seine Überzeugungen eigentlich von allen Menschen geteilt werden müssten, trage immer schon ein Samenkorn zur Gewalt in sich. Die Schlagzeilen in den Zeitungen scheinen ihnen recht zu geben: In unserer Zeit gibt es viel Gewalt, die mit religiösen Überzeugungen in Verbindung gebracht wird. Und das beschränkt sich keineswegs auf den Islam. Darum wird gefordert: Die Instrumente, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft regeln, müssten ganz säkularisiert werden, nur so könnten wir eine Welt gestalten, in der Menschen mit einer Vielfalt von Meinungen friedlich nebeneinander leben könnten.

Man kann darauf antworten, dass die Bewegungen, die im 20. Jh. zu den grössten Massenvernichtungen geführt haben, der Stalinismus und der Nationalsozialismus, beides säkulare Bewegung waren. Das zeigt aber nur, dass absolute Wahrheitsansprüche sich nicht auf Religionen beschränken. Das Argument der Religionskritiker ist damit aber nicht entkräftet. Der Friedensforscher Markus A. Weingardt setzt diesen Thesen entgegen: „Religion [m]acht Frieden!“ In seinen Büchern „Religion Macht Frieden“ (leider vergriffen) und „Was Frieden schafft“ (liegt im Burgfeld auf) untersucht er, unter welchen Umständen Religion Frieden fördert und hilft, Konflikte zu bewältigen.

Er beschreibt etwa, wie die Evangelische Kirche in der DDR Trägerin einer friedlichen Revolution werden konnte; ihr Einfluss war wesentlich dafür verantwortlich, dass es in der DDR in den radikalen Veränderungen Ende der 1980er Jahren nicht zu Blutvergiessen und militärischer Gewalt kam. Er zählt Gründe auf, warum ihr das möglich war: eine demokratische Verfasstheit, eigenständige Ausbildungsstätten und Medien, Kontakte zu staatlichen Organen, „Offenheit für Andersgläubige und Andersdenkende sowie für verschiedenste Formen der Religiosität oder der Nicht-Religiosität, und nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Kirchenleute in der Regel durch Mut und Aufrichtigkeit gegen die Ablehnung der gesellschaftlichen Mehrheit sowie gegen staatliche Repressionen behaupten mussten.“[1] Alles Haltungen, die zutiefst im Glauben der Kirche selbst begründet sind.

In den Massakern in Ruanda gingen katholische Christen auf andere katholische Christen los. Die Kirchenvertreter „spielten während des Mordens zumeist eine überaus unselige Rolle.“[2] Viele führende Kirchenvertreter waren mit dem herrschenden Hutu-Regime verflochten, ihnen fehlte die Distanz, um in die Dynamik des Genozids von Hutus an Tutsis einzuschreiten. Die muslimischen Gemeinschaften dagegen waren in Ruanda eine kleine Minderheit, die um die Gefahr von eskalierender Gewalt wusste. Die Imame hatten über Jahre hinweg unter Berufung auf den Koran dazu aufgefordert, sich von Gewalt fernzuhalten und keinen Hass zu schüren. Ihnen gelang es, „die Allgemeingültigkeit ethischer Werte wie Gleichheit, Menschlichkeit, Lebensrecht“ so zu vermitteln, dass viele Muslime sich den Massakern entgegenstellten, Bedrohten Schutz gewährten und im Konflikt deeskalierend wirken konnten. Sie waren nicht gefangen im Schema von zwei Volksgruppen, in dem sich je die einen durch die anderen bedroht fühlten. Sie liessen aufgrund ihres Glaubens die Hilfe Andersgläubigen zukommen, weil „nach dem Koran alle Menschen gleich seien, und der Koran den Schutz der Schwachen und Unterdrückten lehrt.“[3]

Warum aber lassen sich innerhalb derselben Religion die einen durch den Glauben zu Gewalt hinreissen und andere davon abhalten und dazu bringen, Andersgläubige zu schützen? Ist Religion einfach ambivalent und kann mal in die, mal in die andere Richtung ausschlagen? Wenn Religion den Frieden fördern würde, müsste sie ja fördern, dass Menschen Andersdenkende, Andersglaubende gerne in ihre Gemeinschaft aufnehmen, und zwar als Andersdenkende. Und das nicht, obwohl sie selbst gläubig sind, sondern weil sie gläubig sind. Sie müsste auch in ein Verhältnis zu den politischen Mächten führen, in dem die Glaubensgemeinschaft gleichzeitig für die Gesamtgesellschaft wichtig gesehen wird. Sie sollte Einfluss haben, ohne diesen Mächten zu verfallen.

 

Andreas Hasenclever zeigt auf, dass Religion im Vollsinn tatsächlich so wirkt. In seinem Referat „Zwischen Himmel und Hölle“[4] widerlegt er zunächst durch empirische Untersuchungen den untergeschobenen Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt. Wo Religion Gewaltfördernd wirkt, tritt sie meist in Kombination mit ethnischen oder nationalistischen Motiven auf. Und Konflikte, die auf diesen Motiven beruhen, sind nicht weniger brutal, wenn Religion keine Rolle spielt.

In Bezug auf Wolfhart Pannenberg zeigt er dann, dass Religionen sich immer in einem Spannungsfeld zwischen einer Wahrheit, die als unwandelbar gilt, und der veränderlichen Wirklichkeit bewegen müssen, in der diese Wahrheit formuliert und verkündet wird. Selbst wenn eine Religion sich auf eine für sie universelle Wahrheit bezieht, muss sie, sobald sie ins real gelebte Leben tritt, die Frage stellen, was diese Wahrheit jetzt in der wandelbaren Zeit bedeutet. Formulierte Wahrheit steht immer in Bezug zur Zeit, zu der sie spricht und muss darum laufend neu formuliert werden.

Die meisten Religionen haben komplexe Bezugssysteme, auf die sie die Verkündigung einer Heilszusage an eine bestimmte Zeit abstützen – die Christen etwa die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, bezeugt durch die Schriften der Bibel; im Islam der Koran. Und Religionen enthalten wiederum Systeme, mit denen sie ausloten, inwieweit diese Bezugssysteme sowohl in der göttlich-ewigen Wirklichkeit als auch in der endlich-wandelbaren Zeit verankert sind. Ein Beispiel dafür ist der jahrhundertelange und eigentlich bis heute andauernde Streit in der Kirche, ob und wie Jesus Christus mit dem ungeschaffenen, Gott wesensgleichen Logos identifiziert werden kann, und wie er gleichzeitig ganz Mensch war, verwurzelt in und abhängig von seiner Zeit und Kultur.

Kurz: Es gibt keine Verkündigung einer Heilswahrheit in der Welt, ohne dass diese Wahrheit für die eigene Zeit interpretiert werden muss. Und immer wieder neu angepasst werden muss.

Wer an Gott glaubt, der mehr ist als das, was ich erfassen kann, der muss auch damit zurechtkommen, dass sich der eigene Glauben wandelt, obwohl Gott derselbe bleibt. Wer lebendig glaubt, lebt im Bewusstsein, wie vielfältig die Interpretation der einen Wahrheit sein kann und muss. Man kann den eigenen Glauben nicht absolut setzen, weil da immer ein Unterschied bleiben muss zwischen dem Glauben und dem Gott, an den man glaubt.

Das könnte ein Schlüssel sein, warum gerade Glaubende aus ihren Glauben heraus bereit sind, Andersglaubende in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Der Glaube an Gott fördert das Bewusstsein, dass meine Erkenntnis limitiert und relativ ist. Der Gott, den wir verkündigen, auf den unsere Kultur und Glaubensgemeinschaft verweist, bleibt immer auch transzendent zur Verkündigung und Glaubensgemeinschaft. Darum können die Grenzen der eigenen Überzeugungsgemeinschaft nie absolut gesetzt werden. Obwohl die eigene Überzeugung meistens eine Grenze zu andern setzt, können diese Grenzen für den Glaubenden nie so unverrückbar werden, dass sie Gewalt und absolute Ausgrenzung rechtfertigen könnten.

Wird dieser Transzendenzbezug des Glaubens aufgegeben, tritt die eigene Überzeugung oder die eigene Gemeinschaft an die Stelle Gottes. Das ist nicht mehr Religion im vollen Sinn. Hasenclever stellt die These auf, dass die „Radikalisierungsprozesse“ vor allem Isolationsprozesse sind.[5] Die bewusste Isolierung hat zur Folge, dass rudimentäre Kenntnisse der neu erworbenen Religion weder mit der langen Auslegungstradition noch mit der Vielfalt einer Glaubensgemeinschaft in Berührung gebracht werden. Nur in dieser doppelten Isolation können sich Überzeugungsgemeinschaften halten, welche die Welt in Schwarz-Weiss einteilen und die sich für den terroristischen Kampf gebrauchen lassen.

 

Wo Religion sich aber der Komplexität der Welt stellt und die Demut vor dem Gott bewahrt, an den sie glaubt, kann eine Gemeinschaft sich nicht selbst zum Idol erheben. Und da bewahrt sie sich auch das Potential, dem Gott zu dienen, der zum Heil aller in diese Welt kommt.

Jürg Bräker

 

Literatur:

Markus A. Weingardt, Religion Macht Frieden, Kohlhammer, 2007

Markus A. Weingardt, Was Frieden schafft. Religiöse Friedensarbeit, Gütersloh 2014.

Fernando Enns, Wolfram Weiße (Hrsg.), Gewaltfreiheit und Gewalt in den Religionen. Politische und theologische Herausforderungen, Waxmann 2016.

[1] Markus A. Weingardt, Religion Macht Frieden, Kohlhammer 2007, 83.

[2] Weingardt, 311.

[3] Weingardt, 315.

[4] Andreas Hasenclever, Zwischen Himmel und Hölle, in: Fernando Enns, Wolfram Weiße (Hrsg.), Gewaltfreiheit und Gewalt in den Religionen. Politische und theologische Herausforderungen, Waxmann 2016, 53-71. In Konflikten mit mehr als 200’000 Toten gab es seit 1956 keinen Konflikt, der allein auf religiösen Differenzen beruhte. Unter den schlimmsten mit mehr als 1 Mio Toten spielten religiöse Elemente manchmal eine Rolle, manchmal gab es keinen religiösen Bezug. Auch zeigen Studien, dass die Wahrscheinlichkeit und Intensität von Gewaltkonflikten in der islamischen Welt nicht höher ist als säkularen oder anders religiös geprägten Welten.

[5] Vgl. Hasenclever, 64f.