Bericht vom Studientag „Menschenrechte und christlicher Glaube“ vom 18. November 2017 in Biel-Madretsch

Samuel Cacciabue, TFFG

Am 18. November hat das Täuferische Forum für Frieden und Gerechtigkeit (TFFG), in Zusammenarbeit mit den reformierten und katholischen Kirchgemeinden von Biel, einen Studientag unter dem Thema „Menschenrechte und christlicher Glaube“ durchgeführt. Mit grossem Engagement haben die Referentinnen und Referenten im Lauf der Tagung das Thema der Menschenrechte aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Daraus habe ich das folgende Fazit gezogen: Die Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeit und nicht von jeher in unseren Genen verankert. Vielmehr sind sie das Ergebnis eines langen und mühsamen Prozesses und bleiben auch heute verwundbar. Es ist unsere Verantwortung, sie zu schützen und ihnen Geltung zu verschaffen – auch in der Schweiz!

Zur Schlussmitteilung der Tagung

Geschichtliche Aspekte

In ihrem Einführungsreferat hat die täuferische Theologin Dorothea Loosli auf die verschiedenen Stationen hingewiesen, die zur Erklärung der Menschenrechte geführt haben. Dabei spielte der englische Täufer R. Overton eine wichtige Rolle: Im Rahmen der englischen Revolution formulierte er bereits 1647 ein erstes allgemein gültiges Manifest der Menschenrechte. – Zum Vortrag von Dorothea Loosli „Menschenrechte und läuferischer Glaube“  – Zur Präsentation

Biblisch-theologische Perspektive

Anhand von 15 Thesen ging der Theologieprofessor Pierre Bühler auf den biblisch-theologischen Aspekt dieser Frage ein, wobei er aufzeigte, wie widersprüchlich die Aussagen der Bibel zu diesem Thema sind. Gewisse Texte stehen in völligem Widerspruch zu den ethischen Werten, auf denen heute die Menschenrechte beruhen, so z. B. die Gewalt gegen die „Gottlosen“ oder Aufrufe zur Vernichtung fremder Völker. Andere hingegen weisen in eine ganz andere Richtung und gehen sogar über unser heutiges Rechtsverständnis hinaus, wie etwa die Aufforderung Jesu, unsere Feinde zu lieben.

Historisch gesehen, so Pierre Bühler, berief sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 noch klar auf die Schöpfungstheologie. In der Französischen Revolution bezog man sich noch vage auf eine höhere Macht, während die heutigen Menschenrechtserklärungen ganz ohne religiöse Bezüge auskommen. Und doch sind es nicht wir Menschen allein, die über die Menschenrechte verfügen können.

Zum Vortrag von Pierre Bühler „Grundlagen der Menschenrechte – eine biblisch-theologische Annäherung“

Eine theologisch-feministische Vision

Die Theologin Doris Strahm ergänzte dieses Referat mit einem Beitrag zu den Menschenrechten aus einer feministischen Perspektive. Dabei wies sie darauf hin, dass die Frauen immer besonders darum kämpfen mussten, dass auch ihre Rechte anerkannt wurden. Dabei spielen aus theologischer Sicht der Schöpfungsbericht im Buch Genesis und die Aussagen zur christlichen Gemeinschaft in Galater 3 eine besondere Rolle. Heute haben feministische Theologinnen ein weit gespanntes Netzwerk aufgebaut; sie beteiligen sich aktiv an kontextuellen Interpretationen der Bibeltexte mit dem Ziel, die Stellung der Frau in der Gesellschaft aufzuwerten und ihre Rechte zu schützen.

Zum Vortrag von Doris Strahm „Frauenrechte als Prüfstein: Menschenrechte aus feministisch-theologischer Sicht

Menschenrechte aus juristischer Sicht

Die Lausanner Völkerrechtsprofessorin Evelyne Schmid brachte zunächst eine Klärung der juristischen Begriffe in die Diskussion ein. Im Speziellen erläuterte sie die Entstehungsgeschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Funktionsweise des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Dies ist vor allem wichtig im Blick auf die Debatte um die SVP-Initiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ (Selbstbestimmunginitiative) und ihre möglichen Konsequenzen für die Schweiz.

Zum Vortrag von Prof. E. Schmid „Menschenrechte aus juristischer Sicht“

Menschenrechte sind auch Flüchtlingsrechte

Nach der Mittagspause befasste sich der Jesuitenpater Christoph Albrecht, der in der Flüchtlingsseelsorge engagiert ist, mit dem Thema der Rechtssituation insbesondere der Asylbewerber/innen. Er stellte fest, dass eine Grenze der Anerkennung der Menschenrechte oft dort erreicht wird, wo sie Menschen im Verlauf eines Verfahrens verweigert werden. Das Referat zeigte deutlich auf, wie sehr unsere Institutionen im Begriffe sind, sich bezüglich der Aufnahme von Flüchtlingen von der Menschenrechtstradition unseres Landes zu entfernen.

Zum Vortrag von Christoph Albrecht „Menschenrechte im Umgang mit Flüchtlingen in der Schweiz“

Menschenrechte – ein Lernprozess

Einen eindrücklichen Schlussakzent setzte der in der Schweiz lebende türkische Menschenrechtsaktivist Ramazan Özgü, dessen beruflicher Schwerpunkt der interreligiöse Dialog ist.

Er wies auf die grosse Bedeutung der friedlichen Beilegung von Konflikten und die Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit hin. Zurzeit geht die türkische Regierung mit aller Härte gegen Regimegegner und Menschenrechtsaktivisten vor. Trotz allem setzt Özgü auf jene Kräfte in seinem Land, welche an die Versöhnung glauben und sich dafür einsetzen.

Die Menschen in der Schweiz rief er dazu auf, vermehrt ihre „Komfortzone“ zu verlassen und jene zu unterstützen, die sich auch unter persönlichen Risiken für die Menschenrechte einsetzen.

Natürlich ist diese knappe Zusammenfassung des Studientages mit seiner Fülle von Informationen, Fragestellungen und Diskussionen zwangsläufig unvollständig. Aber sicher hat er sein Ziel erreicht, die Anwesenden dazu zu ermutigen, sich stärker mit den Fragen der Menschenrechten in der Schweiz auseinanderzusetzen, auch im Blick auf die kommende Volksabstimmung zu diesem Thema.

Zum Bericht des Workshops

(30.11.17. Übersetzung SB)

Solidarität wird Mangelware

Ich schreibe diesen Beitrag, nachdem die Rentenreform 2020 abgelehnt wurde.  Diese Abstimmung hat meines Erachtens viel zu tun mit Gerechtigkeit, (sozialem) Frieden und Solidarität. Die Einführung der AHV vor fast 70 Jahren war eine Pionierleistung bezüglich Altersvorsorge und Stärkung der sozial Schwachen. Die letzten drei Revisionen wurden alle vom Volk abgelehnt. Alle Parteien und Verbände sind sich einig, dass eine Reform dringend ist, um längerfristig die Finanzierung der Altersvorsorge zu sichern. Der vorgeschlagene Kompromiss der Rentenreform 2020 ist die Frucht von über 6 Jahren Arbeit, begeisterte aber niemanden wirklich ganz. Er entspricht aber dem politisch Machbaren. Ich will hier nicht über die komplizierten einzelnen Massnahmen sprechen, sondern diese Abstimmung in einen grösseren Zusammenhang stellen.

 

Die Abstimmungskampagnen und das Resultat sind ein Zeichen für die zunehmende Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft. Das längerfristige Ziel vor allem von FDP, SVP und den Wirtschaftsverbänden ist, staatliche Aktivitäten und Aufgaben zu reduzieren und diese dem privaten Wirtschaftssektor zuzuführen (Stichwort Abbau der Staatsaufgaben und Reduktion der Steuern für Unternehmer und Reiche). Folgerichtig soll die AHV zugunsten der zweiten und der dritten Säule gestutzt werden. Dies ist aus meiner Sicht aus zwei Gründen bedenklich und gefährlich: Erstens ist die AHV die einzige Form der Altersvorsorge, die eine solidarische Umverteilung von hohen Einkommensbezügern zu Menschen mit kleinen oder keinem Einkommen bringt: Die AHV Beiträge werden prozentual auf dem Einkommen erhoben, während die AHV Renten auch für Superreiche einen Maximalbetrag nicht überschreiten. Damit trägt die AHV massgeblich dazu bei, Altersarmut zu verringern und Ergänzungsleistungen auf einem tragbaren Niveau zu halten. Bei der zweiten und dritten Säule findet keine Umverteilung von reich zu arm statt, weil jeder erhält, was er während seiner Lebensarbeitszeit einbezahlt hat. Wer die AHV kürzt, erhöht das ohnehin starke Gefälle zwischen arm und reich und erhöht längerfristig das Risiko sozialer Unrast und von sozialen Konflikten.

Zweitens führt die Zunahme von zweiter und dritter Säule zur verstärkten Privatisierung dieses Geschäftes in den Händen von Banken und Versicherungen. Diese maximieren ihre Profite zulasten der Interessen der Versicherten. Die steigenden, aber oft nicht transparenten Verwaltungs- und Bearbeitungsgebühren bei Banken und Versicherungen lassen den für den Versicherten verbleibenden Teil tendenziell schrumpfen.

 

Ist es zynisch anzunehmen, dass FDP und SVP entgegen ihrer geäusserten Sorge, dass die vorgeschlagene Rentenreform deshalb abzulehnen sei, weil sie die AHV nicht langfristig sicherstellt, eigentlich daran interessiert ist, die AHV durch die Nichtreform finanziell in Schieflage zu bringen? Damit wäre der Weg für sie frei, ohne Rentenerhöhung Rentenalter 67 für Männer und Frauen vorzuschlagen. Dies wäre ein grosser Nachteil für Menschen, die schwere körperliche Arbeit verrichten, also wieder für jene, die tendenziell wenig verdienen, aber auch für Frauen, ganz zu schweigen von allen 50+, die entlassen werden und kaum mehr Arbeit finden und damit der Allgemeinheit, d.h. dem Steuerzahler zur Last fallen.

 

Die Ablehnung der Rentenreform reiht sich ein in andere vorgeschlagene Entsolidarisierungsmassnahmen wie die bevorstehende Unternehmenssteuerreform, die Schwächung respektive Abschaffung der SRG durch die No-Bilag Initiative oder den Leistungsabbau bei der Post.

 

Bisher war der soziale Frieden und ein sehr gut ausgebauter Service Public ein Merkmal der Schweiz und ein Standortvorteil für viele Unternehmer. Ist die politische Rechte daran, diesen Bonus leichtfertig aufs Spiel zu setzen?

 

Luc Bigler, 24.09.2017

Befreit von Furcht – ermutigt zur Gewaltfreiheit

Auszüge aus der Eröffnungsrede zur Tagung von Church & Peace am 9. Juni 2017 in Straßburg von Antje Heider-Rottwilm

 

Wir wollen als Church & Peace im Reformationsjahr, das geprägt ist von der Erinnerung an Luther, Melanchthon und Erasmus unseren eigenen Akzent setzen, hier in der Stadt, die neben Augsburg ein wichtiges Zentrum der Täuferbewegung war. In der toleranten Stadt Straßburg hat unter anderen Michael Sattler1 Zuflucht gefunden. Er wurde allerdings 1527 ausgewiesen, da man zwar theologische Vielfalt akzeptierte, nicht aber bürgerlichen Ungehorsam wie das Verweigern des Eides, des Gebrauchs von Waffen und der Übernahme öffentlicher Ämter.

2017, also 500 Jahre lutherische Reformation, sagt der Ökumeniker Dietrich Werner dazu: „Von „Reformation“ kann man nie nur im Singular sprechen, sondern nur im Plural: Wir sollten sensibel sein für die verschiedenen Gestalten von reformatorischen Bewegungen in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten. Die reformatorische Bewegung von Jan Hus (lange vor Luther im 14. Jahrhundert!) oder die reformatorische Bewegung der Waldenser ist genauso wichtig wie die reformatorische Bewegung, die sich mit dem Namen von Martin Luther oder Johannes Calvin verband. Die Reformation ist also irreführend und einseitig durch die Perspektive der Großkirchen bzw. der Landeskirchen bestimmt. „Reformation“ ist für uns theologisch gesehen kein abgeschlossener historischer Epochenbegriff, sondern ein dynamischer Qualitätsbegriff, d.h. ein mit der Existenz der Kirche selbst gegebenes kritisches Prinzip der ständigen Neuaktualisierung von Kirche aus.“

Und Dietrich Werner weist darauf hin, dass „Reformatorische Bewegungen“ solche Gestaltungsprozesse in den Kirchen der Weltchristenheit sind, die die befreiende Kraft des Evangeliums unter neuen sozialen, kulturellen und politischen Umständen neu zur Geltung bringen. Es geht darum, Befreiung des Glaubens, Befreiung des Menschen, Befreiung der Kirche, Befreiung der Welt und Befreiung der Schöpfung zusammenzudenken und weiter kreativ zu entfalten. 2 …

Wir kommen als Mitglieder von Church & Peace zusammen, um uns zu begegnen, zu reflektieren, auszutauschen, zu stärken, gemeinsam geistlich zu verorten. Und es gibt einen Gedankengang, der eng mit der Reformation verbunden ist und den wir miteinander gehen wollen .

Das ist das Thema ‚Fürchte Dich nicht! Oder: Fürchtet euch nicht! ‘ Furcht wird in der Psychologie definiert als ein Gefühl des Bedrohtseins; Furcht ist objektbezogen, d.h. sie tritt nur angesichts einer konkreten Gefahr auf. 3

Das Wort, der Zuspruch ‚Fürchte Dich nicht‘ kommt in der Bibel sehr häufig vor. Wir finden ihn im ersten Buch der Bibel (1. Mose 15,1) und im letzten Buch der Bibel (Offenbarung 2,10). Das weist darauf hin, dass die Menschen in allen Generationen voller Furcht waren – und Gott erlebten als den, der sie ermutigte, sich ihrer Furcht zu stellen – und sie auszusprechen und die Furcht zu überwinden. Sozusagen an der Nahtstelle zwischen der Hebräischen Bibel und dem Evangelium von Jesus Christus geschieht dies eindrücklich.

Zum einen in Lukas 1,30. Da spricht der Engel zu der jungen Frau Maria angesichts der Mitteilung von ihrer unerklärlichen und unerwarteten und sicher belastenden Schwangerschaft: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden.

Und in Lukas 2, 10 ist das Kind im Stall von Bethlehem geboren, die Hirten sind geblendet und erschrocken angesichts des himmlischen Glanzes. Da spricht der Engel zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich bringe euch gute Nachricht, die für das ganze Volk sein wird. Evangelium für das ganze Volk!

Jesus stillt den Sturm und sagt dann zu den Jüngern: Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr denn keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Selbst Wind und Meer sind ihm gehorsam. (Mk 4, 40f.)

Jesus glättet die Wogen, schafft festen Grund – aber die Jüngerinnen und Jünger fürchten, sich darauf einzulassen. Warum seid ihr furchtsam? Habt ihr denn keinen Glauben?

Glaube kann Berge versetzen und Wogen glätten, Glaube schafft festen Grund. In der gegenwärtigen Kultur der diffusen Ängste und konkreten Furcht ist das eine ungeheure Herausforderung. Martin Luther formulierte in der 14. seiner 95 Thesen: „Ist die Liebe (zu Gott) unvollkommen, so bringt…das notwendig große Furcht”. Und in seinem Kommentar zu dieser These spitzte er zu, dass letztlich die Furcht auf einen Mangel an Gottesglauben zurückzuführen sei, auf ein defectum fidei.

Der Gottesglaube und die Gottesliebe des Reformators Luther führten allerdings nicht dazu, dass er sich auf die Kraft des Glaubens, der Liebe, der Hingabe, der Nachfolge verließ. Noch 1522 hatte er diejenigen, die die Reformation mit Gewalt durchsetzen wollten, gewarnt: ‚Non vi sed verbo‘ (Nicht durch Gewalt, sondern das Wort). Aber 1526 schrieb er in der Schrift ‚ Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können‘ (WA 625.626): „Fast könnte ich mich ja rühmen, dass seit der Zeit der Apostel weltliche Schwertgewalt und Obrigkeit nie so klar beschrieben und herrlich gepriesen worden ist als durch mich (…) Nun sieht es zwar nicht so aus, als ob Würgen und Rauben ein Werk der Liebe wäre. Deshalb mag einer in *Einfalt* denken, es sei kein christliches Werk und zieme sich nicht für einen Christen, es zu tun. Aber in Wahrheit ist es doch ein Werk der Liebe.”

So legitimierte er, dass – statt Gewaltfreiheit – Gewalt zur dunklen Seite der Reformation und der Mächte, die sie politisch instrumentalisierten, wurde. Demgegenüber galten die Täufer als radikal. Radikal unter anderem deswegen, weil sie mit einer baldigen Wiederkunft Christi rechneten und ihre Welt darauf ausrichten wollten – mit Gütergemeinschaft, Gewaltlosigkeit und einer hierarchiefreien Kirche und Gesellschaft. Dafür mussten sie bitter leiden.

Anlässlich des Täuferjahres 2007 baten Vertreter der Reformierten Kirche der Schweiz die Nachfahren der Täuferbewegung um Vergebung. Und 2010 bat der Lutherische Weltbund bei seiner Vollversammlung in Stuttgart die Mennonitische Weltkonferenz als Nachfahren der Täufer um Vergebung der Schuld, die lutherische Christen in der Reformationszeit auf sich geladen hatten.

Und hier ein weiterer Blick zum Thema Furchtlosigkeit: Könnte es sein, dass das Zurückschrecken vor der Gewaltlosigkeit, das Zurückschrecken davor, sich selbst wie auch die Verletzbaren und Bedrohten ganz Gottes Liebe anzuvertrauen, auch zusammenhängt mit der Furcht vor dem Tode, die mich und uns alle zu beherrschen droht? …

Der am Karsamstag gestorbene Johann Christoph Arnold, Mitglied der Bruderhofgemeinschaft in den USA, Friedensstifter, Schriftsteller und Polizei-Seelsorger in New York, Gründer des Programms für Gewaltprävention ‚Breaking the Cycle‘, hat ein Buch mit dem Titel ‚Hab keine Angst‘ geschrieben. In Aufnahme von Gedanken Dietrich Bonhoeffers führt er aus:

„…Die beste (und in der Tat die einzige) Weise, die Angst vor dem Tod zu überwinden, ist die, das Leben so zu leben, dass seine Bedeutung nicht durch den Tod zerstört werden kann. Das mag hochtrabend klingen, aber es ist in Wirklichkeit sehr einfach. Es bedeutet, dass wir gegen den Impuls ankämpfen müssen, ein egoistisches Leben zu führen, ein Leben, das sich in erster Linie um unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche dreht. Es bedeutet, unseren Geiz zu bekämpfen und uns in Großzügigkeit zu üben. Es bedeutet, demütig zu sein und nicht Macht und Einfluss zu suchen. Und schließlich heißt es auch, immer wieder bereit zu sein, alles aufzugeben – auch unser Selbstbild, unser eigenes Leben, und unsere eigenen (und eigennützigen) Meinungen und Pläne. … Wichtig ist allein, dass wir unser Leben für die Liebe leben, denn nur dann werden wir in der Lage sein, dem Tod mit Zuversicht ins Auge zu sehen, wenn er kommt. Ich sage das, denn ich bin mir sicher, dass wir nicht gefragt werden, wie viel wir im Leben erreicht haben, wenn wir unseren letzten Atemzug getan haben und vor Gott treten. Wir werden gefragt werden, ob wir genug geliebt haben. Johannes vom Kreuz hat es so ausgedrückt: ‚Am Lebensabend werden wir auf der Grundlage der Liebe gerichtet.‘“4

In der Einladung zu unserer Konferenz fragen wir: Was heißt „500 Jahre Reformation“ angesichts der individuellen, gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen für uns heute? Wenn Reformation die Erkenntnis bedeutete, dass Gott Gnade, Liebe, Barmherzigkeit ist und uns in die Freiheit ruft, dann gilt es, das durchzubuchstabieren und durchzuhalten bis in alle Bereiche menschlichen und gesellschaftlichen Lebens:

  • Das bedeutet, Gottes Liebe, die sich in Jesus Christus für uns hingibt und damit verletzlich wird, anzunehmen.
  • Das bedeutet, meine eigene Geborgenheit in Gottes Liebe und meine Verletzlichkeit als Mensch zu akzeptieren.
  • Das bedeutet, falschen Mächten und Gewalten, falschen Sicherheiten und damit Gewalt als Mittel zu Schutz und Sicherheit abzusagen.
  • Das bedeutet Gewaltfreiheit in allen Bereichen zu leben – individuell, gesellschaftlich, global – und sich politisch dafür einzusetzen.
  • Das bedeutet, wie Dietrich Werner sagt, die befreiende Kraft des Evangeliums unter neuen sozialen, kulturellen und politischen Umständen neu zur Geltung zu bringen. Es geht darum, Befreiung des Glaubens, Befreiung des Menschen, Befreiung der Kirche, Befreiung der Welt und Befreiung der Schöpfung zusammenzudenken und weiter kreativ zu entfalten.

Für uns heißt das: Es ist an der Zeit, dass die Kirchen den reformatorischen Glaubensschritt tun – hin zu in Gottes Liebe gegründeter Furchtlosigkeit – und damit hin zur Gewaltlosigkeit.
Wir wollen miteinander unsere Lebens- und Arbeitsbereiche bedenken, uns gegenseitig‚ gute Nachrichten‘ überbringen und furcht-freie, sichere Räume des Austausches und Miteinander Lernens entstehen lassen.

 

Übernommen von plough

 

Fussnoten:

  1. Michael Sattler (* um 1490 im Breisgau; † 21. Mai 1527 verbrannt auf dem Scheiterhaufen in Rottenburg am Neckar; Benediktinermönch, täuferischer Märtyrer, Autor der Sieben Artikel von Schleitheim (1527). gehörte neben Konrad Grebel und Felix Manz zu den führenden Persönlichkeiten der ersten Täufergeneration.
  2. Dr. Dietrich Werner, Reformation – Bildung – Transformation, Ökumenische Perspektiven zum Thema Reformation und Eine Welt, 12 Thesen – Vortrag Bad Herrenalb, 14. Juli 2015
  3. http://www.enzyklo.de/lokal/42134
  4. Johann Christoph Arnold, Hab keine Angst, Erlebnisse und Gedanken zu Krankheit, Tod und Ewigkeit, Plough Publishing House 2002, S. 213

 

Kürzlich erschienen: Unter dem Rad der Geschichte – Autobiographie eines Menschen mit erstaunlicher Zivilcourage

Premysl Pitter (1895 – 1976) rettete in den Wirren der Nachkriegsmonate in der Tschechoslowakei über 800 jüdische und deutsche Kinder aus Konzentrations- und Internierungslagern vor Hungertod und Gewalt. Später engagiert sich Pitter im Auftrag des Weltkirchenrats im Flüchtlingslager „Valka“ bei Nürnberg. 1964 erhält er den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“.

Pitters Autobiographie ist geschrieben in unpathetischer und doch engagierter Art, mit viel Liebe und Mitgefühl, realistisch und illusionslos. Sein unbeugsamer Einsatz für Menschenwürde und Gerechtigkeit ist ein leuchtendes Beispiel für alle, die sich Zivilcourage anstreben.

Die von Sabine Dittrich bearbeitete Neuauflage dieser Autobiographie ist ein Lehrstück in gewaltfreiem Widerstand. Pitter zitiert Romain Rolland, Denker und Praktiker der Gewaltfreiheit und Pionier des Internationalen Versöhnungsbundes, welcher sich seinerseits im Gespräch auf Gandhi bezieht: „Gandhis Nichtbeteiligung ist passiver Widerstand, aber das bedeutet nichts Passives, sondern eine mächtige, ausdauernde, eine positive Kraft.“ Pitter schreibt im ersten Teil, dieser Gedanke habe ihn in seine Heimat begleitet. Was dann folgt ist ein eindrücklicher Beleg dafür, dass er sich von dieser Einsicht hat leiten lassen, manchmal unter Lebensgefahr.

Pitter beschreibt treffend ein Phänomen, welches in Situationen sozial-politischer Konflikte bekannt ist: 1919 zieht eine Menschenmenge ruhig durch die Strasse mit einem Galgen, an dem eine Puppe hängt. Auf Plakaten steht „Weg mit den Schiebern“. Vor einer Metzgerei, deren Besitzer möglicherweise Jude war, schreit ein Einzelner ein antisemitisches Schlagwort. Und mit einem Mal stürzte sich die Menge mit wüstem Gebrüll auf das Geschäft, riss das Schild herunter, zerschlug das Schaufenster, begann zu plündern. Die bisher ruhigen Menschen verwandelten sich schlagartig in jene rasende Herde, in der das Individuum aufhört, selbständig, ein vernünftiges Geschöpf zu sein; in der es zum Bestandteil eines unverantwortlichen Kollektivs wird. Das erinnert an die Märsche in Nordirland in den 80ern und 90ern – und auch an die Beschreibung von Carolin Ecke in ihrem Buch Gegen den Hass. S. Fischer 2916

Vaclav Havel schrieb zum Buch: Premysl Pitter ist ein Beispiel für Humanismus und Toleranz.

Das Buch liest sich leicht, das kommt auch von der Leichtigkeit des Autors und seines Sinns für Humor. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, besonders auch für junge Menschen, für welche die Zeit Ritters weit entfernt ist, die aber empfindsam sind für die Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten unseres 21. Jahrhunderts.

Neufeld Verlag 2017, 160 Seiten