Zivile Instrumente stärken – statt EU-Gelder in Waffen und Militär investieren.

Church and Peace ruft  Kirchen und Politik zu entschiedenem Eintreten für Gewaltlosigkeit und zur Abkehr vom Vertrauen in militärische Sicherheitskonzepte auf.

Mit entschiedenem Widerspruch reagiert die Mitgliederversammlung von Church and Peace bei ihrer Jahresversammlung vom 9. – 11.06.2017 in Straßburg auf die Vorschläge der EUKommission vom 7. Juni. Diese hat eine Mitteilung zu einem neuen europäischen Rüstungsfonds, einen Vorschlag für eine Verordnung zur finanziellen Unterstützung der europäischen Rüstungsindustrie und ein Reflexionspapier mit möglichen Zukunftsszenarien vorgelegt. Statt etwa die nationalen Rüstungsprojekte aufeinander abzustimmen und damit erhebliche Gelder einzusparen, sollen laut der Kommission Gelder aus dem laufenden, bislang zivilen EU-Haushalt investiert werden. Mit der Begründung „Unsere Sicherheit (wird) durch die zunehmende Instabilität in der Nachbarschaft Europas und in der Welt sowie durch neue Bedrohungen aufgrund wirtschaftlicher, ökologischer und technologischer Faktoren gefährdet“ (1) wird in zwei der drei Zukunftsszenarien eine Perspektive für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsunion
entwickelt. Die flankierenden Vorschläge zum Rüstungsfond und der Verordnung zur Förderung der europäischen Rüstungsindustrie legen nahe, dass aus einer ganzen Reihe bislang ziviler Haushaltsmittel und Instrumente bis 2020 weit über 600 Millionen in die europäische Rüstungsindustrie abgezogen werden sollen. Dies würde nicht nur den Haushalt, sondern auch den Charakter der Europäischen Union grundlegend verändern. Church and Peace hatte – wie auch andere zivilgesellschaftliche Akteure auf nationaler und europäischer Ebene – schon am 12. Oktober 2016 gegen die damals vorgeschlagene und noch zur Entscheidung anstehende Ausweitung des Instruments für Stabilität und Frieden (IcSP) auf die
militärische Ertüchtigung von Drittstaaten protestiert.

„Wir warnen eindrücklich vor einem solch tiefgreifenden Paradigmenwechsel. Dieser Vorschlag ist ein weiterer Schritt dahin, dass Gelder für Friedensarbeit und Entwicklungshilfe zunehmend für andere Zielsetzungen wie den Aufbau militärischer Fähigkeiten oder Migrationskontrolle instrumentalisiert werden. Eine Außenpolitik, die von good governance, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung redet, wird dadurch unglaubwürdig und die militärische Abschreckung von Flüchtlingen ersetzt die Bekämpfung der Ursachen von bewaffneten Konflikten.“ (2)

Die Mitgliederversammlung erwartet von den europäischen Kirchen wie vom Europäischen Parlament, der massiven ‚Militarisierung‘ von EU-Geldern für Rüstung und Verteidigungskapazitäten die Forderung nach einer kohärenten und entsprechend finanzierten Friedenspolitik auf der Basis der UN-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs) entgegenzusetzen. Sie ist überzeugt, dass ein Militarisierungsprojekt nicht das in die EU verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen, sondern vielmehr zur weiteren Entfremdung beitragen wird.

Die Mitgliederversammlung, zu der mehr als 80 Menschen aus 15 europäischen Ländern zusammen kamen, hatte das Thema ‚Reformation 2017: Befreit von Furcht – ermutigt zur Gewaltfreiheit’. Die Ermutigung „Fürchtet euch nicht”, die die biblischen Bücher durchzieht, war Grundlage der Predigt von Ana Raffai aus Kroatien, katholische Theologin und Mitbegründerin der interreligiösen Gruppe ‚Gläubige für den Frieden‘. Dies war auch der rote Faden der Arbeitsgruppen zu Themen wie „Sicherheit in Europa“, „Sicherheitslogik versus Friedenslogik –
Schutzverantwortung durch eine internationale Polizei? Chancen und Grenzen des ‚Just Policing‘“, „Church and Peace, die Bibel und sexuelle Identitäten“, „Angst, Populismus, Nationalismus und die Rückkehr des Faschismus“ oder „Konstruktiver Umgang mit eigenen Ängsten“.
Was heißt „500 Jahre Reformation“ angesichts der individuellen, gesellschaftlichen und globalen

(1) European Commission, Reflection Paper on the future of European defence, S.3
(2) http://www.church-and-peace.org/fileadmin/downloads/Pressemitteilungen/CP-PM-EU-IcSP-D_10-2016.pdf

http://www.church-and-peace.org/

Statement gegen Hass 2017

Das Statement gegen Hass 2017 der Koalition „Für Menschen – gegen Diskriminierung“ setzt sich ein für ein respektvolles Zusammenleben:

  • Keine Verbreitung von Hass und Angst, kein Platz für Gewalt oder Terror,
    weder gegen religiöse und andere Minderheiten noch im Namen jeglicher Religion.
  • Keine Stigmatisierung der muslimischen oder anderer Minderheiten in der Schweiz.

Anfangs 2015 haben fast 50 Organisationen das Statement gegen Hass unterschrieben. 2017 aktualisieren und erneuern wir diesen Aufruf. Extremistische Menschen verschiedenster Religionen oder Weltanschauungen haben seit jeher die in der Schweizer Verfassung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Menschenrechte von Minderheiten verletzt, zu Hass gegen sie aufgerufen und terrorisiert. Aktuell wird insbesondere, aber nicht nur im Namen des Islams Gewalt und Terror gegen muslimische, jüdische, christliche, LGBTI – und andere Menschen ausgeübt. Gleichzeitig wird immer wieder Hass gegen und Angst vor Minderheiten verbreitet: Oft sind es die gleichen Stimmen, die Menschen wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der Geschlechteridentität, der sexuellen Orientierung, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung diffamieren oder ihre Rechte einschränken (s. BV Artikel 8). Jeder solcher Angriff auf die Menschenwürde ist zu viel: dieser Dynamik muss auf allen Seiten Einhalt geboten werden.

Bei den Terror-Anschlägen im Namen des Islams in Europa (Nizza, Paris, Kopenhagen, Brüssel …), Nordamerika (Orlando), auch in Afrika und Asien, aber beinahe tagtäglich in Ländern des Nahen Ostens sind der weitaus grösste Teil der Opfer selbst muslimische Menschen, manchmal werden aber auch bewusst jüdische, LGBTI- oder (wahllos) andere unschuldige Opfer jeglicher Herkunft angegriffen. In der Schweiz selbst fürchtet sich die Bevölkerung einerseits vor Angriffen – wie in Nachbarländern – und andererseits sind der Staat oder andere Instanzen gefordert, insbesondere bei öffentlichen Grossanlässen oder für jüdische und auch andere symbolträchtige Einrichtungen aufwendige Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.

In Europa wachsen die Ängste vor einer Radikalisierung, die junge Erwachsene zu kaum vorstellbarer Gewaltbereitschaft ver- und anleitet. Das gilt ebenfalls für die Schweiz – auch wenn wir hier bis anhin von Anschlägen verschont geblieben sind. Laut der Bundespolizei sind bisher rund 70 Verdächtige aus der Schweiz bekannt (das entspricht rund 1 von 5‘000 Schweizer Muslim_innen), die in den letzten Jahrzehnten nach Syrien oder anderswo gereist sind oder reisen wollten, um mit dem sogenannten IS oder ähnlichen Gruppen zu kämpfen.

Es muss vermieden werden, dass diese Ängste immer wieder in eine schädliche, polarisierende, öffentliche Hetze gegen muslimische Mitmenschen münden. Ein pauschaler Verdacht aufgrund von wenigen Extremist_innen ist weder gerechtfertigt noch förderlich, sondern ungerecht und diffamierend:

  • Als Frauen an Sylvester 2015 in Köln und anderen Städten Übergriffe erlitten, wurden international muslimische Männer, insbesondere Flüchtlinge, unterschiedslos als suspekt eingestuft.
  • Wenn ein Mädchen nicht in den Schwimmunterricht geht oder zwei Jungen der Lehrperson nicht die Hand geben, wird das zu einem nationalen Thema aufgebauscht, das – anstatt mit pragmatischen, pädagogischen, menschenrechtsfördernden Mitteln – strafrechtlich angegangen werden soll.
  • Nach jedem Vorfall schüren fremdenfeindliche Stimmen Ängste, um daraus parteipolitischen Profit zu ziehen, anstatt konstruktiv Prävention zu fördern.
  • Mittels Initiativen gegen Kopfbedeckungen wird kantonal und national die Stimmung gegen Muslim_innen noch weiter angeheizt.

Wie bei der Minarett-Initiative verhindert das unverhältnismässige Hochspielen solcher Fälle ein friedliches Zusammenleben und die Inklusion. Dabei werden Stimmen der Vernunft geflissentlich überhört, während extreme – muslimische und anti-muslimische – Äusserungen die öffentliche Bühne dominieren.

Dennoch oder gerade deshalb: Muslimische, jüdische, LGBTI- und andere Minderheiten verdienen Respekt und Schutz – auch von Menschen anderer Weltanschauungen –, statt pauschalisierende Stigmatisierung oder Bedrohung ihrer Sicherheit. Wer Demokratie und eine offene, vielfältige Schweiz schätzt, soll Zeichen für ein kooperatives Zusammenleben und sinnvolle Hass- und Gewalt-Prävention setzen.

Die Unterzeichnenden dieses Statements gegen Hass plädieren dafür, dieser Hetze Einhalt zu gebieten, den gemässigten und pragmatischen Meinungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, einen wirksamen Diskriminierungsschutz zu fördern und damit das respektvolle und friedliche Miteinander zu fördern. Wo Gewalt oder andere Straftaten vorbereitet werden, braucht es wirksame Gegenmassnahmen. Um die Radikalisierung zu verhindern, braucht es einerseits die Akzeptanz der friedlichen muslimischen Glaubensgemeinschaften, die Regulierung ihrer Finanzierung, Imam-Ausbildungen in der Schweiz und zunehmende Kooperation und Kommunikation mit den vielen wohlgesinnten muslimischen und nichtmuslimischen Mitmenschen. Andererseits ist stigmatisierenden Äusserungen von politischen und religiösen Wortführenden gegenüber Minderheiten, insbesondere der muslimischen, jüdischen und LGBTI-Gemeinschaften entschieden entgegenzutreten.

von http://www.ncbi.ch/de/projekte/statementgegenhass/

Unterzeichnen

Weltweite Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen

Die meisten Menschen der Welt wollen Atomwaffen verboten haben. Nicht so einige Nationen. Eine weltweit angelegte Kampagne setzt sich für ein Verbot ein. Auf der Ebene der Vereinten Nationen finden entsprechende Verhandlungen statt. Ein Problem dabei ist die Abwesenheit einiger westlicher Staaten. Am 15. Juni beginnt die 2. Verhandlungsrunde zu einem Atomwaffenverbot. Am Samstag, dem 17. Juni findet in New York außerdem der „Women´s March to Rally and Ban the Bomb“ statt.

Church & Peace und viele kirchliche und andere Organisationen rufen ihre Mitglieder auf, an die Medien in ihren Regionen und Ländern Briefe zu schicken mit der Aufforderung, dass ihr Land an den Verhandlungen teilzunehmen und sich für das Verbot der Atomwaffen einzusetzen. Zweck dieser Briefaktion ist die Bekanntmachung und Bewusstseinsförderung der nuklearen Bedrohung und der Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen.

ICAN ist die internationale Vernetzung der Akteure in dieser Kampagne. Wichtige Infos gibt es auf der ICAN-Deutschland Website und auf der englisch-sprachigen ICAN website.

Hier die Vorlage für einen Leserbrief. Es ist wichtig, möglichst viele Leserbriefe an Tageszeitungen und Zeitschriften zu schicken während die Verhandlungen im Gang sind, d.h. vor dem 7. Juli 2017.

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Unsere Zeit ist zutiefst gezeichnet von Gewalt – zermürbende Kriege im Nahen Osten, Terroranschläge in Europa und atomares Säbelrasseln in Nordostasien. Wir kommen nicht umhin, uns selber zu erkennen in den Leidenden mit ihren unerfüllten Hoffnungen nach Frieden.

So sind wir dankbar, dass die Schweiz teilnimmt an den historischen Verhandlungen der Vereinten Nationen vom 15. Juni bis 7. Juli zu einem Verbot der Atomwaffen, welche endgültige Instrument unbegrenzter Gewalt sind. Was jahrelange Kämpfe in Aleppo angerichtet haben tut eine Atombombe in einem Augenblick.

Wir sind erfreut, dass unsere Regierung mit mehr als 130 Regierungen dieses erstmalige Abkommen verhandelt. Es ist gut, dabei auch europäische Nachbarn zu sehen: Österreich, Liechtenstein, Schweden und Irland, mit grossen Teilen von Lateinamerika, Afrika, Asien und den Pazifischen Inseln.

Gleichzeitig ist die “Körpersprache” der der Grossmächte eindrücklich, welche im Rahmen der  Vereinten Nationen grösste Verantwortung tragen für Frieden und Sicherheit: Alle fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates boykottieren die Gespräche zum Verbot der Atomwaffen! Sie alle halten nach wie vor an der Logik des Kalten Krieges fest, welche eine unantastbare Verpflichtung zu gegenseitig gesicherter atomarer Zerstörung und einem atomaren Gleichgewicht des Terrors verlangt.

Andere Nachbarn – Deutschland, Italien, Polen, Ungarn und weitere NATO Mitglieder –  bleiben den Gesprächen auch fern. Einige der 15’000 Atomwaffen in der Welt sind nach wie vor in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Italien stationiert, sodass europäische Piloten sie unter NATO-Befehl abwerfen können.

Wir rufen unsere Regierung dringend auf, den gegenwärtigen Entwurf zu stärken. Das Abkommen muss das ganze Spektrum humanitärer und ökologischer Konsequenzen von Atomwaffen abdecken. Es muss die Voraussetzungen zu der vollständigen Abschaffung dieser Waffen beinhalten sowie lebensrettende Massnahmen für Opfer und die betroffene Bevölkerung verlangen.

Alle Länder haben ein Interesse, Waffen zu verbieten welche alles Leben bedrohen mitsamt allem, was im Leben kostbar ist. Unser 21. Jahrhundert braucht eine Zusammenarbeit und Partnerschaft auf globaler Ebene um Klimawandel, Massenmigration und nachhaltige Entwicklung gemeinsam anzugehen. Doch stattdessen werden Milliarden verschleudert in nuklearen Arsenalen welche Angst schüren und den wirklichen Fortschritt blockieren.

Indem sie internationale Gesetzgebung erarbeitet, macht eine solide Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen wesentliche Schritte zu einer atomwaffenfreien Zukunft. Die Teilnahme der Schweiz ist eine Stimme für diese Zukunft.

name

organisation

In Partnerschaft mit Pax Christi International und dem Ökumenischen Rat der Kirchen

Ort

Menschenrechte und christlicher Glaube

Studientag (zweisprachig) 

Samstag, 18. November 2017, 09:00 – 16:30

Paulushaus, Blumenrain 24, Biel / Bienne

Menschenrechte sind nicht selbstverständlich – auch nicht in der Schweiz. Wir möchten deshalb die theologischen, gesellschaftlichen und juristischen Herausforderungen zu dieser Frage wahrnehmen und darüber nachdenken.
Am Morgen in Form von Referaten, am Nachmittag in verschiedenen Workshops. 

Referierende:

– Dorothea Loosli, lic. sc. theol. 

  • Menschenrechte & täuferische Geschichte

Pierre Bühler, Prof. ém. en théologie

  • Grundsätze der Menschenrechte – eine biblische und theologische Sicht

 Doris Strahm, Dr. Theol.

  • Menschenrechte aus feministisch-theologischer Sicht

– Evelyne Schmid, Prof. Dr. 

  • Menschenrechte aus juristischer Sicht

Christoph Albrecht, SJ

  • Menschenrechte im Umgang mit Flüchtlingen in der Schweiz

Ramazan Özgü

  • Fehlende Sensibilität für Menschenrechte anderswo ?

Kosten: Fr. 40.- (Verpflegungsmöglichkeit vor Ort)

Anmeldung: schriftlich oder per Mail bis Ende Oktober an Charles-André Broglie, Envers 9F, Sonceboz-Sombeval ; ca.broglieATbluewin.ch

Veranstalter:
Täuferisches Forum für Frieden und Gerechtigkeit
unterstützt durch:
Arbeitskreis für Zeitfragen Biel & Fachstelle Bildung der kath. Kirche Biel

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Für eine andere Radikalität

Als die Begriffe “Radikalismus” und “Radikalisierung” in Politik und Medien geläufig wurde – im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten unter islamistischen Fahnen – hat mich das zunehmend irritiert. Ich hatte vor bald 50 Jahren von der radikalen Reformation erfahren. Diese Begrifflichkeit befand sich zwar nicht im exklusiven Besitz meiner täuferischen Tradition, aber sie steht bestimmt für grundlegende Veränderung und für etwas zutiefst spirituelles, welches absolut konstruktiv wirkt. Es gab um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also im Zuge der Industrialisierung, die politische radikale Bewegung, welche u.a. in der liberal-radikalen Partei mündete. Echte Radikalität respektiert das menschliche Gewissen und seine Würde. Sie sucht, den Menschen im Wandel und Trubel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen  Entwicklung zu schützen.

Angesichts der Beschlagnahmung der Begrifflichkeit um die Radikalität fühlte ich mich dieser kostbaren Terminologie beraubt: Durch Staatsmänner welche es vorziehen, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten und durch Medienschaffende, welche am liebsten blutige Spektakel darstellen wollen. Nun interessierte mich, was Hannah Arendt mit der “Banalität des Bösen” meinte und wovon  Immanuel Kant  in seiner Schrift vom “radical Bösen in der menschlichen Natur” sprach. Mir gefällt die Aussage von Hannah Arendt, eigentlich eine Schlussfolgerung, dass nur das Gute wirklich radikal ist.

Ich habe schon immer gedacht, Radikalität sei eine kostbare Sache, wenn heute auch unpopulär: Radikal sein heisst, der Sache auf den Grund gehen. Radikale Veränderung ist tiefgreifender, vollständiger und nachhaltiger als Reformation, weil sie Transformation von den Wurzeln her sucht, statt sich zufrieden zu geben mit Reparaturen von etwas, das an sich verkehrt oder korrupt ist. War es nicht solche radikale Transformation wofür die Täufer des Mittelalters standen und verfolgt wurden?

Ich begann, dieser Sache nachzugehen. Schaute auf die Bedeutung der Worte, auf die Bilder und die Symbole. Je mehr ich fand, umso mehr fühlte ich mich beraubt, spürte den Himmel schief liegen. Was, wenn der Begriff “Radikalisierung” nur ein Vorwand ist für den wirklich schrumpfenden Raum des individuellen und kollektiven Handelns und der Freiheit? Wer und was genau ist bedroht durch wen und was genau? Sind die Proportionen des Kriegs gegen den Terrorismus nicht längst ausser Rand und Band? Wer glaubt denn wirklich daran, dass sämtliche Jugendliche der Welt sich ISIS anschliessen wenn nicht ein andauernder Ausnahmezustand verhängt und dieser Krieg weiter ausgedehnt wird? Werden wir dann wirklich alle von „Allah u Akbar“ schreienden Djihadisten überrannt werden? Und ganz abgesehen davon, was soll das ganze Gelaber um Radikalisierung? Oder ist es letzten Endes perfide Strategie? Geht die wahrhaftige Gefahr nicht vielmehr von den Mächten und Gewalten aus, die ihre Herrschaft zu verallgegenwärtigen und zu verewigen suchen?

Umso mehr war ich ausser mir vor Freude, als ich beim Stöbern in der Abteilung Philosophie in einer Buchhandlung in Nizza auf das Buch stiess mit dem Titel “Konfiskation – für eine andere Radikalität”. Die Autorin, Marie-José Mondzain, französische Philosophin, ist spezialisiert auf den Umgang mit Bildern und Symbolen und sie bietet eine passionierte und tiefgreifende Analyse.*

Mondzain protestiert nicht nur gegen die Konfiszierung des Begriffs Radikalisierung, sie untersucht auch die mittlerweile gängig gewordene De- oder Ent-Radikalisierung. Sie schreibt: Radikalität wird nun reduziert, um doktrinäre Überzeugungen und Strategien der Indoktrination zu bezeichnen und danach zu suggerieren dass eine Deradikalisierung genügt um Gewalt aus der Welt zu schaffen und Versöhnung zu bringen, welche mit der Welt einig geht, die solche gewalttägige Auswüchse hervorgebracht hat. 

Hannah Arendt’s Antwort auf die Anschuldigung, sie habe Kant’s radikal Böses in eine Banalität des Bösen umgeleitet, lautet dass das Böse nie radikal sei, dass es bloss extrem sei und weder tief sei noch dämonische Dimensionen habe. Es kann die ganze Welt einnehmen und verwüsten eben weil es sich wie ein Pilz unmerklich ausbreitet. Es fordert das Denken heraus weil das Denken die Tiefe sucht, weil es nach den Wurzeln greift. Nur das was wirklich gut ist, ist tief und kann radikal sein, sagt Arendt.

Radikalität, sagt Mondzain, darf nicht weiterhin eine Krankheit der Andern sein, aber muss ein positiver Vorschlag unser aller werden. Dies bedarf einer gewissen Vorstellungskraft. Wie wir in den vergangenen Jahren gelernt haben, bedarf Friedensbildung auch der Vorstellungskraft (Imagination). Doch unsere Vorstellungskraft droht von der Konfiskation sowohl der Sprache wie auch der Bilder durch den vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen – und religiösen? –  Diskurs in Beschlag genommen und seiner Kreativität beraubt zu werden.

Die frühen Täufer hatten verstanden, dass etwas grundsätzlich falsch war im Aufbau der damaligen Gesellschaft und mit der Art, wie diese kontrolliert wurde. Das konnte nicht einfach mit der Abschaffung der Messe, des Ablasses und anderer Mittel zur ewigen Seligkeit korrigiert werden, noch würde ein Umkrempeln der Lehre und der Bildersturm das Problem lösen. Auch war es nicht genug, das Bekenntnis zu ändern um zu sagen “Allein durch den Glauben, allein die Gnade, allein die Schrift”. Die Gewalten mussten getrennt werden, die Waffen niedergelegt, persönliche Freiheit musste gewährt und das Gewissen respektiert werden. Das war in der Tat radikale Vorstellungskraft und Forderung, denn es ging über Religion und ihre Symbole hinaus um die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen und ihre Praxis zu verändern.

Statt Repression zu steigern und ausgeklügelte Systeme einzusetzen um junge Menschen zu de- radikalisieren, deren Träume pervertiert worden waren, muss die Gesellschaft sich heute den Werten zuwenden, welche die Menschheit seit jeher inspiriert und Gemeinschaften in grosser Verschiedenheit aufgebaut haben: Respekt, Liebe, Gastfreundschaft, Wahrheit, Gerechtigkeit. Die Reformation – und besonders die radikale Reformation – zeigt, dass Menschen Glauben finden und Heilung erfahren jenseits von Dogma und Institution. Wie kommt es dann, dass in der heutigen, sich atemberaubend schnell wandelnden Welt die Doktrin des Nationalismus, der Macht und des Wohlstands sich als unantastbar darstellt und es Menschen verbietet, jenseits der bekannten Herrschaftsverhältnisse von einer ganz anderen, besseren Welt zu träumen? Es mag sein, dass die meisten Menschen nicht von Sozialismus träumen und lieber ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer Familie fördern. Doch es ist auch wahr dass die meisten unter ihnen wirklich an Gemeinschaft interessiert sind und viele sich engagieren über ihre eigene Gemeinschaft und Nation hinaus. Denn sie haben verstanden, dass das Wohlergehen ihrer Grosskinder direkt mit dem Wohlergehen der Grosskinder ihrer Feinde zusammenhängt, wie es John Paul Lederach schrieb.

Laut einem vom amerikanischen Radiosender NPR zitierten Experten ist ein Kriterium der Radikalisierung der Glaube dass Utopia erreicht werden kann. Nach dieser Definition müssten wir alle Radikale sein. Sollten die heutigen Täufer (der linke Flügel der Reformation) sich nicht als Radikale deklarieren um so die Paradigmen zu überwinden, welche das Böse, das sie auszurotten vorgeben, doch nur vervielfachen? Der Weg zu wirklicher Freiheit erstreckte sich langwierig durch die Reformation und dann rascher seit dem frühen 20. Jahrhundert. Doch wir sind weit davon entfernt, wirklich frei zu sein und diejenigen, welche behaupten, die Vergessenen vor den Eliten zu retten, bauen neue Mauern und entfachen neue Kriege – errichten in Wahrheit eine Super-Elite. So werden wir alle und alles in allem  zu besseren Sklaven. In diesem Umfeld ist radikale Liebe und Gastfreundschaft von Not, wie auch Widerstand. Dieser Ruf geht an alle, die den Mut und den Glauben finden, gleich den Propheten aller Zeiten.

* Marie-José Mondzain; Confiscation : Des mots, des images et du temps. Pour une autre Radicalité. Liens qui libèrent (Les) 2917